Sprache der verlorenen Jugend

Der in London lebende palästinensische Schriftsteller Samir El-Youssef fühlt sich zwar als Brite, aber auch als Palästinenser. Flucht und Exil sind Teil seiner Identität geblieben. Alexandra Senfft hat ihn getroffen.

Porträt Samir El-Youssef; Foto: &copy Random House
Der Palästinenser Samir El-Youssef, geboren 1965 im Libanon, wuchs im Flüchtlingslager Rashidia auf und zog im Alter von zehn Jahren mit seiner Familie nach Sidon. Seit 1990 lebt er in London.

​​"Einmal mehr stehen wir vor der Herausforderung, eine Sprache zu finden, die uns sowohl die Schande des Schweigens als auch den Vorwurf des Verrats ersparen könnte. Eine Sprache, die trotz allem unsere Hoffnung auf ein friedliches Nebeneinander bewahren kann", schrieb Samir El-Youssef im Januar 2009 auf dem Höhepunkt des Gazakrieges in einem fiktiven Brief an einen israelischen Freund, den die Süddeutsche Zeitung abdruckte.

Gaza zählt zu den weltweit überbevölkertsten Gebieten der Erde: fast 1,5 Millionen Einwohner auf 360 Quadratkilometern. Die Arbeitslosenrate dort beträgt rund 50 Prozent, acht von zehn Haushalten leben unter der Armutsgrenze.

Beim Anblick der Zerstörungen und des menschlichen Leids verschlug es vielen Beobachtern die Sprache. Ratlos fragten sich Betroffene und Außenstehende, wie man hier noch angemessen Stellung beziehen und einen konstruktiven, zukunftsgerichteten Ansatz formulieren könnte.

Lösungen gedeihen im geschützten Raum

"Aufgeben dürfen wir niemals!", schrieb Samir El-Youssef in der Süddeutschen Zeitung. Er rief beide Seiten zur Umsicht auf, damit nicht auch noch die Hoffnung auf Frieden unter den Trümmern Gazas begraben werde.

El-Youssef findet passende Worte, immer wieder. Als palästinensisches Flüchtlingskind in einem Lager im Südlibanon aufgewachsen, hat er selbst Bombenangriffe erlebt.

Wer das Trauma des Krieges überwinden konnte, gewinnt Abstand. Emotionale Distanz zum furchterregenden Ereignis zu schaffen, ist eine gesunde Schutzreaktion – und im geschützten Raum lässt es sich besser rationalisieren, reflektieren, lassen sich Lösungen finden.

Nicht zuletzt die Sprache dient diesem Prozess der Verarbeitung. Es ist deshalb kein Zufall, dass der Schriftsteller seinen palästinensischen Protagonisten im Roman "Die Illusion der Rückkehr", der wie er in London lebt, sagen lässt, er spreche fast nur noch Englisch und kaum seine Muttersprache: "Ich genieße einfach die Anonymität. Außerdem würde das Arabische mich zwingen, Prämissen und Werte zu akzeptieren, die nicht mehr die meinen sind."

Albtraum der Ablehnung

"Eines der größten Probleme ist, dass beide Seiten rassistisch sind", sagt Samir, ganz ruhig und nüchtern. Er weiß um die dunklen Seiten, die in uns allen schlummern, und er hat das in seinen Werken immer wieder thematisiert. "Der erste Schritt zur Lösung dieses Konflikts ist Selbstkritik und die Erkenntnis, dass wir alle rassistische Elemente in uns tragen", fügt er hinzu.

Und dann wagt er sich noch weiter über die Grenze zum Anderen hinüber: "Es muss für die Israelis ein Albtraum sein, von der Umgebung ständig abgelehnt zu werden und isoliert zu sein."

Mit dem Gefühl der Isolierung kann Samir sich identifizieren. 1975, als er zehn Jahre alt war, zog er mit seinen Eltern und acht Geschwistern vom Flüchtlingslager in die Küstenstadt Sidon um.

​​ Die Familie lebte von der Unterstützung des UN-Hilfswerks für Palästinaflüchtlinge und vom Lohn seines Vaters, der auf dem Bau und in der Landwirtschaft arbeitete. Seine Mutter hielt das Geld zusammen, sodass die El-Youssefs trotz der sozialen Not über die Runden kamen. Von früh an empfand sich Samir als heimatlos, und er begriff, dass das Leben voller Zweideutigkeiten und Ambivalenzen ist.

Seine Mutter ist Schiitin, sein Vater sunnitischen Glaubens. Das ist zwar kaum die Ursache dafür, dass seine Eltern sich in seiner Kindheit ständig zankten, aber beides schulte ihn vermutlich, divergierende Standpunkte und Wahrnehmungen in sich zu integrieren. Er war 17, als die israelische Armee 1982 in den Libanon eindrang, um gegen die PLO vorzugehen. An manchen Tagen rannte er um sein Leben.

1985 begannen im Zuge des libanesischen Bürgerkriegs die Lagerkämpfe, in denen die schiitischen Amal-Milizen Palästinenser angriffen, weil sie die Kontrolle gewinnen wollten:

"In den 1980er Jahren war der Libanon grauenhaft – ein Staat, in dem jeder jedem an den Kragen wollte. Am Ende dieses Jahrzehnts Palästinenser zu sein, war hoffnungslos, absolut hoffnungslos", erzählte El-Youssef der britischen Tageszeitung Independent vor zwei Jahren. Während des Bürgerkriegs schrieb er bereits Kurzgeschichten und Artikel. Und er wollte nichts wie weg.

"Kein Palästinenser wollte damals bleiben", sagt er. "Alle träumten davon, den Libanon zu verlassen, aber niemand wusste, wohin er gehen sollte."

Reise ins große Ungewisse

Die meisten Menschen träumen ein Leben lang, doch manche nehmen ihr Schicksal selbst in die Hand: Samir El-Youssef riskierte mit 25 Jahren den Aufbruch. Er verließ Ende der 1980er Jahre seine Familie, seine Freunde und Nachbarn, um ins Ausland zu gehen. Eine weitere Reise ins große Ungewisse. Zunächst fuhr er nach Zypern. Dort schlug er sich ein Jahr mit Schreibarbeiten durch, während er sich um ein Visum bemühte, das ihn weiterbringen sollte.

Eigentlich wollte Samir nach Deutschland, doch dessen Grenzen blieben für ihn verschlossen. Die Briten indes nahmen ihn auf und unterstützten ihn in der schweren anfänglichen Zeit, arbeitslos im Exil. "Dafür werde ich ihnen immer dankbar sein", sagt er.

Seit 1990 lebt er in London, wo er politische Philosophie studierte und als Schriftsteller arbeitet. Eine weitere Ambivalenz: Er fühlt sich zwar als Brite, aber auch der Palästinenser, Flüchtling und Exilant sind Teil seiner Identität geblieben.

"Zuhause" oder "Heimat" sind Begriffe, mit denen Samir nicht viel anzufangen weiß – nie fühlte er sich an einen bestimmten Ort gebunden. Nicht an den Libanon, der sein Land nie war, und auch nicht an Palästina oder an das, was es in der Vorstellung der Altvorderen früher einmal gewesen ist.

Eine israelisch-palästinensische Liebesgeschichte

​​ In seinem neuen Roman "A Treaty of Love" ("Ein Vertrag der Liebe") beschreibt Samir die Beziehung eines Palästinensers mit einer Israelin, die sich in London begegnen. Der Leser ahnt beizeiten: Diese schwierige Liebe kann keine Erfüllung finden und ist eine Analogie für die gescheiterten politischen Friedensverhandlungen.

"Unsere Beziehung beruhte auf dem unausgesprochenen Vertrag, ineinander verliebt zu sein oder, um genauer zu sein, so zu tun, als seien wir verliebt", erklärt der Ich-Erzähler im Roman:

"Genau das ist es – ein Vertrag der Liebe zwischen einem Palästinenser und einer Israelin. Und ebenso wie die vielen Verträge, die von Palästinensern und Israelis unterzeichnet wurden, war auch dieser Vertrag unbeholfen und wackelig, zu früh oder zu spät – zu spät, um einen Präzedenzfall und Tabubruch darzustellen, und zu früh, um nur eine ganz gewöhnliche Beziehung zwischen zwei Menschen unterschiedlicher Herkunft zu sein."

"Tiefere Schichten menschlicher Wahrheit"

"Samir ist nicht nur ein einzigartiger Schriftsteller, sondern auch eine einzigartige Person", schrieb der israelische Schriftsteller Etgar Keret aus Tel Aviv. "In seinen Romanen und Geschichten vermag er es, die Klischees, die über diesen Konflikt im Umlauf sind, zu durchbrechen und zu den viel tieferen Schichten menschlicher Wahrheiten durchzudringen."

Keret weiter: "Mit seiner Menschlichkeit, Aufrichtigkeit, Deutlichkeit und –, vergeben Sie mir bitte meinen Postkolonialismus – seinem wundervoll jüdischen Humor, ist er für mich der interessanteste lebende Schriftsteller, der sich mit dem palästinensisch-israelischen Konflikt auseinandersetzt."

Kein Wunder, dass Samir mit so viel Lob vom "Feind" bei vielen Palästinensern aneckt. Doch er geht unverblümt offensiv damit um, wenn er sagt, ihm stünden Israelis aus der Friedensbewegung eben näher als Hamas-Aktivisten oder andere bornierte Ideologen.

Besonders ärgert er sich über jene, die gegen die Normalisierung der Beziehungen mit Israel argumentieren und Kontakte zwischen Palästinensern und Israelis sowie Juden nicht billigen – für ihn sind das leere, verantwortungslose Slogans, die mit der Realität nichts zu tun haben.

"Es geht nicht um die Wahl Israel oder Palästina, sondern um die Frage Krieg oder Frieden", so El-Youssef. Wer sich nur für eine Seite entscheide, rechtfertige den Krieg.

Alexandra Senfft

© Alexandra Senfft 2009

Alexandra Senfft ist Islamwissenschaftlerin und hat in Palästina und Israel gelebt und gearbeitet. Ihr Buch "Fremder Feind, so nah. Begegnungen mit Palästinensern und Israelis" ist vor kurzem in der edition Körber-Stiftung erschienen.

Qantara.de

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Der Israeli Etgar Keret und der Palästinenser Samir El-Youssef haben in ihren Texten gegen die Politisierung ihrer Gesellschaften angeschrieben, um das Private vor dem Zugriff des Ideologischen zu retten. Jetzt ist der Band "Alles Gaza" mit "Geteilten Geschichten" der beiden Autoren erschienen. Von Lewis Gropp