Der Furchtlose

Premier Recep Tayyip Erdogan hat in der Türkei eine Revolution angestoßen - er wird dafür geliebt und gehasst. Eine Bilanz von Kai Strittmatter aus Istanbul.

Der türkische Premier Recep Tayyip Erdogan; Foto: AP
An Erdogans Politik scheiden sich die Geister: Von den einen wird er als "Revolutionär" demokratischer Reformen gefeiert, andere kristisieren ihn als Verräter, der den Seperatismus in der Türkei begünstigt habe.

​​ Sie ist wieder einmal in Aufruhr, die Türkei, dieses schöne Land, dieses schreckliche Land, wie einer unserer Gesprächspartner geseufzt hatte. Ein Land, das an so vielem Leid trägt. An so viel Unvernunft. Und an so viel Furcht.

Jetzt steht da auf einer Bühne am Goldenen Horn der Premierminister. "Sie haben unser Land mit Drohungen und Ängsten gefesselt und so sein Potential verschleudert", ruft er. "Es gibt aber ein Gegengift, und das sind Demokratie und Freiheit." Die Menschen jubeln.

Es ist ein Heimspiel. Kasimpasa. Das Viertel, in dem Tayyip Erdogan als Sohn eines armen Schwarzmeerzuwanderers auf die Welt kam. Hier hat er Sesamringe verkauft, um zu Hause ein paar Cent abliefern zu können, hier wäre er beinahe Fußballprofi geworden.

Der "Mann aus Kasimpasa"

Der Vater war dagegen. Tayyip Erdogan, clever, fromm, ehrgeizig, wurde Handelsvertreter. Bürgermeister von Istanbul. Premierminister. "Der Architekt der neuen Türkei". So haben ihn die Lautsprecher hier angekündigt, als er einfuhr mit einer Kolonne gepanzerter Wagen. Erdogan stieg aus, nickte, die Menge teilte sich.

Hier lauschen einfache Leute, Arbeiter, Familien. "Der beste Premier, den wir je hatten", sagt ein alter Mann. "Die von der hohen Gesellschaft da oben mögen anders denken", er deutet den Hang hinauf, wo die schicken Viertel Beyoglu und Cihangir liegen. Da wohnen viele feine Leute.

Sie haben Erdogan, wenn er wieder einmal einen seiner Wutausbrüche hatte, oft genug als "Mann aus Kasimpasa" verspottet: einer aus dem Viertel der Raufbolde. Keiner der ihren. Keiner von denen, die in dieser Republik eigentlich ausersehen waren, das Land in alle Ewigkeit zu führen, "für das Volk, trotz des Volkes", wie die Losung einst hieß.

Ein wenig Klassenkampf ist immer dabei, wenn Erdogan auftritt. Aber dass er so polarisiert, hat noch einen tieferen Grund. Der Mann verändert das Land tatsächlich. Und das löst Begeisterung ebenso aus wie Entsetzen.

Kampf an mehreren Fronten

"Die Türkei ist heute schon eine andere", sagt Ayse Altinbas, eine Buchhalterin im Publikum: "Früher hat sich keiner in diesem Land getraut zu sagen: Ich bin Kurde! Ich bin Alewit! Heute tun sie das. Jeder kann heute seine Meinung sagen." Ihre Freundin, eine Lehrerin, sagt mit einem Zwinkern: "Ich liebe ihn. Ich würde ihm bis ans Ende der Welt folgen."

Kurdische Proteste in Südostanatolien; Foto: AP
Vorläufiger Rückschlag für Erdogans neuen Kurs in der Kurdenpolitik: Nach dem jüngsten Verbot der kurdischen Partei DTP nimmt die Gewalt gegen die Staatsmacht in Südostanatolien zu.

​​ Und auf der anderen Seite Leute wie der Taxifahrer, der uns beinahe aus dem Wagen geworfen hätte, als er hörte, dass wir zu einem Auftritt Erdogans fahren wollten: "Es gibt keinen, den ich mehr hasse." Warum? "Wir hatten Frieden. Und dann kommt er und will den Kurden Freiheit geben. Schau, wohin das führt – zu nichts als Zwietracht."

Erdogan kämpft an mehreren Fronten. Gerade droht ihm eine um die Ohren zu fliegen: die Kurdenpolitik. "Früher war jeder Kurde ein Vaterlandsspalter. Heute schüttelt uns der Premier die Hand", sagt der kurdische Intellektuelle Ümit Firat.

"Erdogan hat eine Revolution angestoßen. Die Türkei war noch nie so frei und demokratisch wie heute", sagt der liberale Istanbuler Politologe Sahin Alpay. "Dieser Mensch wird in die Geschichte eingehen. Was er für die Minderheiten tut, ist beispiellos", sagt Vater Dositheos Anagnostopoulos, Sprecher des christlich orthodoxen Patriarchen von Konstantinopel Bartholomäus II..

"Den Atem des grauen Wolfs im Nacken"

Andere sind dem Premier weniger wohlgesonnen. Der Führer der größten Oppositionspartei CHP, Deniz Baykal, hat ein Wort für Erdogan und seine Kurdenreformen übrig: "Verräter". Der Ultranationalist Devlet Bahceli droht, Erdogan werde sein Leben lang "den Atem des grauen Wolfs im Nacken spüren".

Deniz Baykal; Foto: dpa
Gegenspieler Erdogans in der Kurdenpolitik: der türkische Oppositionsführer Deniz Baykal von der nationalistischen CHP.

​​ So ergeht es in diesem Land einem, der den Minderheiten entgegenkommt. Baykal und Bahceli – das sind die Alternativen zu Erdogan. "In der Türkei hat man gar keine andere Wahl, als die Regierung Erdogan zu unterstützen", sagt der einstige grüne Europaparlamentarier und Türkeikenner Joost Lagendijk:

"Bei all ihren Fehlern sind sie die Einzigen, die Richtung Europa gehen. Die Opposition ist eine hoffnungslose Clique von Nationalisten." Eine Clique, deren Kraft zur Sabotage noch erschreckend groß ist.

Die Opposition nämlich sitzt nicht nur im Parlament. Die Türkei ist der seltene Fall eines Landes, bei dem Regierung und Staat einander zu sabotieren versuchen. Das Volk wählt zwar die Regierung. Doch den Staat mit seinen weiteren Institutionen dominiert der militärisch-bürokratische Komplex, der dieses Land acht Jahrzehnte beherrschte, egal, wer an der Regierung war.

Republikhüter auf dem Rückzug

Diese Kaste der Republikhüter ist auf dem Rückzug, aber sie hat noch starke Bastionen in Justiz und Armee. Das sind die Staatsanwälte, die Schriftsteller vor Gericht bringen. Die Richter, die kurdische Parteien verbieten. Und die Generäle, die mit Putsch drohen, wenn das Kopftuch an den Universitäten erlaubt werden soll.

"Die Armee hat dem Volk gegenüber ein Gefängniswärtersyndrom", sagt der Kurde Ümit Firat, der nach dem Militärputsch 1980 verhaftet und gefoltert wurde. Ihre Macht aber stützten sie auf die Furcht.

"Wir Türken sind alle aufgewachsen mit Ängsten, die uns eingedrillt wurden", erzählt Cüneyd Zapsu, ein prominenter Geschäftsmann und politischer Weggefährte von Erdogan: "Bis heute werden wir von Furcht regiert: 'Wenn wir das Kopftuch erlauben, kommt die Scharia.' Und: 'Wenn wir den Kurden mehr Rechte geben, spalten sie das Vaterland.'"

Zapsus Vater ist Kurde, er selbst wuchs im Münchner Exil auf. Und er sagt, er sei heute wieder stolz auf Erdogan und seine Partei, die AKP. Weil Erdogan die Tabus im Dutzend bricht: "Nach 86 Jahren sind wir endlich erwachsen genug, uns nicht mehr zu fürchten."

Tiefgreifende Veränderungen

Türkische Armee feiert Tag der Republik; Foto: AP
"Die Armee hat dem Volk gegenüber ein Gefängniswärtersyndrom", sagt der Kurde Ümit Firat, der nach dem Militärputsch 1980 verhaftet und gefoltert wurde. Ihre Macht aber stützten sie auf die Furcht.

​​ Es ist eine Schlacht im Gange in der Türkei. Eine Revolution, die das Land so tiefgreifend verändert, wie es seit Atatürk nicht mehr verändert wurde. Und das spaltet das Land. In Demokraten und Nichtdemokraten. In Liberale, die sich Europa zum Vorbild nehmen, und Autoritäre, die sich säkular nennen und gleichzeitig gegen Europa, Christen und Kurden hetzen.

Und einmal mehr sammeln sich die Liberalen hinter Tayyip Erdogan. Manche zähneknirschend. Weil es keine Alternative gibt. Sie halten aber auch zu ihm, weil Erdogan seinen Weg wiedergefunden hat. Es klingt paradox: ein konservativer, frommer Muslim, der diesem Land mehr Freiheit bringt?

Nach dem Wirbelwind an Reformen, die dem Land 2005 die EU-Beitrittskandidatur einbrachten, hatte es so ausgesehen, als habe Erdogan seine Kraft verbraucht. Es folgten drei zähe, verlorene Jahre. Erdogan verstieg sich in nationalistischer Rhetorik.

Intrigen gegen Erdogan

Aber dann: das Jahr 2009. Erstaunliches geschah. Die Regierung reichte dem Erzfeind Armenien die Hand. Sie hob die Mörderbanden des ultranationalistischen Ergenekon-Netzwerks aus. Sie zog die bisher unantastbare Armee zur Rechenschaft – am selben Tag, als Erdogan in Kasimpasa sprach, standen ein paar Kilometer weiter drei des Putschversuchs verdächtige Vier-Sterne-Generäle vor dem Staatsanwalt.

Um zu verstehen, was auf dem Spiel steht in der Türkei, muss man zum Beispiel den Plan einiger Marineoffiziere – Kodename "Käfig" – gelesen haben, den die Zeitung Taraf enthüllte: Sie wollten türkische Armenier und Griechen ermorden, um die Tat muslimischen Anhängern von Erdogan in die Schuhe zu schieben. Der Plan datiert auf den März 2009.

Und Erdogan? Er besuchte im Sommer auf den Prinzeninseln ein griechisch-orthodoxes Kloster, sagte dem Patriarchat seine Hilfe zu. Er nannte die Vertreibung der Christen aus der Türkei "faschistisch". Der Mann, der 1997 selbst im Gefängnis saß, weil er ein altes Gedicht rezitiert hatte: "Die Minarette sind unsere Bajonette."

Kein islamistisches Gedicht übrigens, sondern – Erdogans Gegner vergessen das gerne zu erwähnen – ein nationalistisches aus dem Befreiungskampf, das in jedem türkischen Schulbuch stand. Der Mann, den seine Gegner noch heute als verkappten Islamisten zu verteufeln versuchen, und zu dessen Wahl 2007 doch der christliche armenische Patriarch aufgerufen hat.

Ein "türkisches Wunder"

Christen in der St. Esprit Kathedrale in Istanbul; Foto: AP
Gelernt aus den Fehlern der Vergangenheit: Erdogan und seine AKP setzen sich deutlicher als die Vorgängerregierungen für mehr Religionsfreiheit von Christen und Muslimen in der Türkei ein.

​​ Weil Erdogan und seine AKP die Einzigen sind, die für mehr Religionsfreiheit kämpfen, für Muslime wie für Christen. "Ich nenne es das türkische Wunder", sagt der Politologe Sahin Alpay, der selbst den Wandel vom Maoisten zum Liberalen hinter sich hat: "Erdogan und seine Parteifreunde haben aus den Fehlern ihrer islamistischen Vergangenheit gelernt. Sie sind weltoffen geworden, liberal."

Vater Dositheos sagt: "Einen Premier, der sich so für die Christen einsetzt, hat es hier noch nie gegeben." Die Türkei habe eine "so grauenvolle Vergangenheit" der Christendiskriminierung, findet Rechtsanwältin Kesban Hatemi, die – selbst Muslimin – seit Jahren für die orthodoxe Gemeinde kämpft:

Und zum ersten Mal versucht ein Premier, diese Probleme anzugehen. Ohne dass er davon profitieren würde." Im Gegenteil: Sein Engagement für die Minderheiten kostet Erdogan in Umfragen Stimmen.

Kurswechsel in der Kurdenpolitik

Erdogan zeigt sich bislang unbeirrt. Das gilt auch für seine Kurdeninitiative, die manche jetzt, nach dem Verbot der Kurdenpartei DTP, schon abschreiben. "Wir können keine Jugendlichen mehr in den Tod schicken", antwortete Erdogan den Zweiflern diese Woche. Er versprach weitere Reformen.

"Vor zwei Jahren haben wir in einem Appell einen eigenen kurdischen Fernsehsender gefordert, ohne auch nur im Traum daran zu denken, dass es ihn wirklich geben könnte", sagt Ümit Firat: "Jetzt gibt es ihn."

Ebenso gibt es erste Kurdischfakultäten an türkischen Universitäten. Und das Versprechen, kurdische Dörfer dürften bald wieder ihre alten kurdischen Namen verwenden.

Aber Erdogan ist noch weiter gegangen. Im Parlament nannte er – zum Entsetzen der Opposition – das Massaker der Armee an den kurdischen Alewiten von Dersim 1937 ein Verbrechen: "Zum ersten Mal sagt ein Premier, dass der türkische Staat große Sünden auf sich geladen hat", sagt Cüneyd Zapsu. "Und in diesem Land gab es viele Dersims. Die Tabus fallen."

Auf größeren Strömen

Erdogan schwimmt auf größeren Strömen. Die wirtschaftliche Öffnung der Türkei seit den achtziger Jahren, die Globalisierung, der EU-Prozess – all das schrie nach Wandel.

Hasim Kilic, Foto: AP
Hasim Kilic, demokratisch gesinnter Präsident des Verfassungsgerichts, hatte mehrfach die Regierung aufgefordert, das Parteiengesetz zu ändern und dadurch Parteienverbote zu erschweren.

​​ Ausgerechnet er aber hat es verstanden, sich zu seinem Agenten zu machen. Ein Mann der Widersprüche, dieser Erdogan. Einer, der es seinen Feinden oft leichtmacht. Einer, der es wie kein Zweiter versteht, sich selbst zu schaden.

Er ist ein Polterer, kein Diplomat. Seine Ausbrüche sind gefürchtet. Und so sehr er austeilt, so wenig verträgt er Kritik. Eine ganze Legion von Karikaturisten hat er wegen Beleidigung angezeigt. Und seine Regierung verfolgt die Mediengruppe des alten Widersachers Aydin Dogan mit einem existenzbedrohenden Steuerverfahren.

"Er hat eine autoritäre Ader", sagt Joost Lagendijk. Und mit fataler Regelmäßigkeit leistet er sich die Ausrutscher, bei denen seine liberalen Unterstützer das Gesicht verziehen vor Schmerz: Mal ist es sein Aufruf an die Frauen, mindestens drei Kinder zu gebären, mal seine Einladung an den sudanesischen Präsidenten und mutmaßlichen Kriegsverbrecher al-Baschir, mal sein Diktum, ein Muslim könne unmöglich Völkermord begehen. Und trotzdem halten sie zu ihm: "Wir haben keinen anderen", sagt Sahin Alpay.

Erneut in der Sackgasse?

Die große Frage nun ist: Bleibt Erdogan mit all seinen Vorhaben im türkischen Sumpf stecken? Und wenn er steckenbleibt, dann, weil er zu weit vorgeprescht ist, oder weil er im Gegenteil nicht mutig genug war?

Einige werfen Erdogan vor, er habe vor entscheidenden Weichenstellungen gekniffen. So hat seine Regierung es versäumt, das Parteiengesetz zu ändern und so Parteienverbote zu erschweren. Obwohl die AKP selbst 2008 um ein Haar verboten worden wäre. Und obwohl der demokratisch gesinnte Präsident des Verfassungsgerichts, Hasim Kilic, die Regierung darum geradezu angefleht hatte.

Ebenso scheut sie bislang, die Wurzel des Übels anzugehen: die Verfassung, die den Geist der Militärdiktatur von 1980 atmet. "Der Wille des Premiers allein reicht nicht. Seine Gegner können ihn immer auflaufen lassen", sagt die Rechtsanwältin Kesban Hatemi. "Die Türkei braucht dringend eine neue zivile Verfassung."

Ratlosigkeit dieser Tage. Die Versöhnung mit Kurden ist ebenso in Gefahr wie die mit den Armeniern. Steckt die Türkei wieder in der Sackgasse? Der Kurde Ümit Firat will sich den Optimismus nicht nehmen lassen:

"Der Status quo ringt um sein Leben. Aber es ist wie bei Kardinälen: Es dauert, bis sie wegsterben." Um die Türkei aber sei ihm nicht bang: "Es ist wie bei Hannibal. Die Schiffe sind verbrannt. Es gibt kein Zurück mehr auf dem Weg nach Europa.

Aus diesem Land wird kein orientalisches mehr." Und Erdogan-Weggefährte Cüneyd Zapsu glaubt: "Wir haben eine wunderbare junge Generation. Früher war dieses Volk wie gelähmt in seinem Gehorsam. Jetzt sprengt es seine Ketten."

Kai Strittmatter

© Süddeutsche Zeitung 2009

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