Wer hat Angst vor Ghannouchi?

Seit der tunesischen "Jasmin-Revolution" wird auch die Rolle der islamistischen "Ennahda" von Rachid Ghannouchi kritisch hinterfragt. Die einen fürchten sich vor einem islamischen Gotteststaat, die anderen wollen den politischen Islam gesellschaftlich tolerieren – als Zeichen des neuen Pluralismus. Von Alexander Göbel

Tunesierinnen demonstrieren gegen drohenden Machtzuwachs der Islamisten in Tunis; Foto: DW
"Wir wollen keinen Gottesstaat, wir wollen Demokratie!" - viele tunesische Frauen haben Angst vor einer schleichenden Islamisierung von Staat und Gesellschaft und demonstrieren für ihre Rechte im Land.

​​ Noch immer gehen in Tunis jeden Tag Demonstranten auf die Straße. Diesmal sind es Frauen. Die meisten sind sehr modern gekleidet, tragen Jeans und T-Shirt, Röcke oder ein Business-Kostüm. So wie die Rechtsanwältin Zouhair Mahlouf, die die Mittagspause zum Protestieren nutzt.

"Wir wollen, dass die Rechte der Frauen geschützt werden, dass Tunesien nicht ins Mittelalter zurückfällt, dass die Rolle der Frau in der Gesellschaft respektiert wird", sagt die Anwältin. "Wir wollen in Tunesien keinen Gottesstaat, wir wollen Demokratie."

Im Bikini zum Flughafen

"Nein zu den Islamisten – Nein zu Rachid Ghannouchi" steht auf dem Schild, das die Anwältin schwenkt. Ghannouchi, der Chef der Islamistenpartei "Ennahda", war vor ein paar Wochen nach Tunesien zurückgekehrt, nach über 20 Jahren im Londoner Exil.

Zouhair Mahlouf hätte es zu gern gesehen, wenn viele Frauen tatsächlich dem Facebook-Aufruf gefolgt wären, um Scheich Ghannouchi am Flughafen im Bikini zu empfangen. So sollten die Frauen ihm klarmachen, was für ein freizügiges Land Tunesien mittlerweile ist.

Dann aber lieferte Ghannouchis Ankunft Bilder, die manche an die Ankunft des Ayatollah Chomeini im Iran erinnerten, und vielen Tunesiern Angst machten. Völlig zu Unrecht, sagt Ajmi Lourimi, Sprecher der "Ennahda".

Der Vorwurf, sie seien aufklärungsfeindlich oder fundamentalistisch, sei aus der Luft gegriffen, sagt Lourimi. "Das ist ein ideologisches Argument, das demagogisch gegen uns eingesetzt wird. Die Islamisten verlangen ganz einfach ihren Platz unter der tunesischen Sonne!"

Vereinbarkeit von Islam und Demokratie

Rachid Ghannouchi; Foto: AP
Nach 20 Jahren im Exil wieder nach Tunesien zurückgekehrt: Rachid Ghannouchi, Führer der "Ennahda" hatte seine Partei 1981 nach dem Vorbild der Muslimbrüder in Ägypten gegründet. Sie wurde jedoch unter Ben Ali in Tunesien verboten.

​​ Die "Ennahda", die sich gern mit der türkischen Regierungspartei AKP vergleicht, will an den kommenden Parlamentswahlen teilnehmen. Die habe schließlich gezeigt, dass Islam und Demokratie vereinbar seien, sagt Ajmi Lourimi. Tunesien sei kein laizistischer Staat, sagt er.

Ben Ali habe das politische System all die Jahre benutzt, um die Trennung zwischen Religion und Staat zu zementieren. "Aber in der Gesellschaft spielt der Islam nach wie vor eine große Rolle. Um den Staat mit seinem Volk zu versöhnen, muss die Religion respektiert werden", sagt Lourimi.

Die "Ennahda" steht unter Druck, denn die Nerven liegen in Tunesien blank, wenn es um den religiösen Fundamentalismus geht. Vor kurzem wurde ein katholischer Priester ermordet, Anhänger einer radikalen Gruppe versammelten sich vor der Synagoge von Tunis und schrien antisemitische Parolen. Bars und Bordelle werden angegriffen und teilweise verwüstet.

Mohamed Haddad, Professor für den religiösen Dialog in Tunis, ist erleichtert, dass die "Ennahda" sich inzwischen von jeder Form von Gewalt distanziert hat. Gegen Radikalisierung gebe es für Tunesien nur eine Lösung: Den mutigen Schritt nach vorne, in eine pluralistische Gesellschaft. Mit Ausgrenzung erreiche man das genaue Gegenteil.

"Das ist eine große Aufgabe, aber wenn wir weiter so tun würden, als gäbe es die Islamisten nicht, dann würde dieses neue Tunesien sich nicht von der Diktatur unterscheiden. Denn ein Mann wie Ben Ali hat seine Macht darauf aufgebaut, dass er dem Westen gesagt hat: 'Ich oder die Islamisten.'" Er sei zuversichtlich, dass die Tunesier den Beweis antreten werden, für einen radikalen Wandel, ohne religiösen Fanatismus.

Tunesien habe keine Angst vor den Bärtigen, sagt Mohamed Haddad. Er wolle in einem Land leben, in dem der Spagat gelinge. In dem die Menschen frei entscheiden könnten, ob sie zum Beten in die Moschee gehen wollen – oder zum Biertrinken in die Kneipe. Und er wolle den Islamisten immer wieder die Gretchenfrage stellen: Wie haltet ihr es wirklich mit der Demokratie?

Alexander Göbel

© Deutsche Welle 2011

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

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