Ein Bumerang für die Hardliner

Der in den iranischen Provinzen entfachte Volkszorn hat längst auch die Metropolen des Landes erfasst. Dabei waren die Proteste anfangs als Kritik der Hardliner an Präsident Rohani gedacht, nicht am System insgesamt. Von Ali Sadrzadeh

Von Ali Sadrzadeh

Was ist los im Iran? Die neue soziale Bewegung, die sich derzeit dort erhebt, kommt aus der Provinz. Sie ist also beschränkt, unberechenbar, ziellos und am Ende gefährlich, sagen die einen. Nein, im Gegenteil, meinen die anderen: Sie ist authentisch, originell und deshalb zukunftsweisend.

Der intellektuelle Streit über das Wesen der Kämpfe, die seit Tagen auf den Straßen der iranischen Provinz toben, dauert ebenso unvermindert an wie diese selbst. Was ist los im Gottesstaat, wer kämpft gegen wen und wohin wird die Reise gehen?

Fest steht, dass das politische Erdbeben, das derzeit den Iran erschüttert, beispiellos ist. Es ist ein Kräftemessen, das die Islamische Republik in ihrem vierzigsten Lebensjahr vor eine gewaltige Herausforderung stellt. Und so mancher erblickt in den Protesten bereits ein Vorspiel dessen, was da noch kommen wird: der Machtkampf um das Erbe des religiösen Führers Ali Khamenei. Ein Vorspiel, das die gegenwärtigen Machthaber wohl gewinnen werden, denn nur sie besitzen hierzu das militärische Potenzial und die notwendige Brutalität.

Die Provinzler und der Königsmacher

Die Protestbewegung nahm ihren Anfang in der Provinz, in der Stadt Maschhad im Nordwesten des Iran, fast tausend Kilometer entfernt von der Hauptstadt Teheran. Am Anfang stand ein Aufruf der Hardliner in den sozialen Netzwerken. Vor dem Rathaus wollten sie gegen Rohanis Wirtschaftspolitik demonstrieren: gegen die Erhöhung der Benzinpreise, die Kürzungen der Sozialausgaben und die gestiegenen Preise für Eier und Geflügel. Es war eine Protestbewegung, die mit den Segen des mächtigsten Mannes der Provinz fand – jedenfalls zunächst.

Sein Name ist Ayatollah Alam Al Hoda, Freitagsprediger der heiligen Stadt Maschhad und zugleich Vertreter von Revolutionsführer Ayatollah Ali Khamenei für die Provinz Khorassan. Manche nennen den 73-jährigen Ayatollah nicht nur den König der Provinz, sondern den Königsmacher für das ganze Land. Sein Schwiegersohn Ibrahim Raisi war Rohanis Rivale bei der Präsidentschaftswahl vor fünf Monaten. Seine Niederlage haben weder Schwiegervater und Schwiegersohn so recht verdauen können, noch die anderen Hardliner Irans mit ihrem Revolutionsführer an der Spitze.

Proteste gegen Khamenei und die politische Führung in Teheran; Foto: picture-alliance
Keine „Grüne Bewegung reloaded“: Für die Demonstranten im Iran scheint es weniger um Demokratie und Bürgerrechte zu gehen, als um hohe Lebensmittelpreise, Arbeitslosigkeit und soziale Ungerechtigkeit - ein Thema, das von den Reformern oft vernachlässigt worden ist. Anders als 2009 scheint es auch keine klaren Führungsfiguren zu geben, und die meisten Reformer haben bisher vermieden, sich hinter die Proteste zu stellen.

Bereits seit Wochen gibt es im gesamten Land kleine und große Protestkundgebungen. Mal sind es Arbeiter, die seit Monaten keinen Lohn bekommen haben, mal Rentner, deren Kassen leer sind, mal arme oder auch reiche Sparer, die von Scheinbanken um ihre Ersparnisse gebracht worden sind.

Doch was zeichnet die Proteste vor allem aus? Sie richten sich gegen Rohanis Regierung. Zwar wurden sie geduldet und fanden ein großes Echo in Zeitungen sowie auf Webseiten vor allem der Hardliner. Allerdings sind es nicht nur die Hardliner, die an Rohanis Stuhl sägen. Auch für dessen Anhänger bedeuten die Monate seit seiner Wiederwahl eine Periode der Enttäuschung und Ernüchterung. Nichts hat er verwirklichen können, was er versprochen hatte, so der gängige Vorwurf. Und: In Rohanis Kabinett sitzt weder eine Frau noch ein Sunnit, stattdessen wurden ihm seine Minister von den Hardlinern aufgezwungen. Und auch in den sozialen Netzwerken hat man sich von Rohani längst abgewandt. Zumindest reißen die Klagen enttäuschter Wähler unter dem Hashtag "Ich bereue" seit Wochen nicht ab.

Der Aufstand der "Entrechteten"

Verärgert über Rohanis Regierung sind schließlich auch die Armen in den entfernten Regionen des Landes. Nach offiziellen Angaben leben rund zehn der rund 83 Millionen Iraner unterhalb der Armutsgrenze – und dies in einem potenziell sehr reichen Land. Dazu kommt eine Klimakatastrophe, deren Folgen bereits jetzt unübersehbar sind: Wassermangel und Dürre in Dörfern und Kleinstädten gehören ebenso zum Alltag vieler Iraner wie die beispiellose Luftverschmutzung in den Städten, unter der Millionen Menschen leiden.

Für die Lösung all dieser Probleme erweist sich Rohanis Regierung bislang als unfähig. Als noch vor fünf Wochen ein starkes Erdbeben die Provinz Kurdistan erschütterte, herrschte blankes Chaos, der Staat schien in den ersten Tagen nach der Katastrophe praktisch abwesend zu sein, jegliche Hilfe kam zu spät.

Irans Präsident Hassan Rohani; Foto: AP
Irans Präsident unter Handlungszwang: „Hassan Rohani fürchtet derzeit mehr den Druck aus dem Ausland als jenen aus der iranischen Provinz. Denn das Gelingen seiner Innenpolitik hängt von einer Normalisierung der Beziehungen des Irans mit der Außenwelt ab. Doch seine Außenpolitik, vor allem die regionale, bestimmen seine Rivalen: Revolutionsführer und -garden sowie die mit ihnen verbündeten mafiösen Kräfte", schreibt Ali Sadrzadeh.

Rohanis politische Rezepte sind wirkungslos angesichts der Problemberge, die er abtragen muss. Seine Regierung ist in den Augen seiner Wähler ebenso unfähig wie in denen seiner Gegner. Diese allumfassende Unzufriedenheit schien für die Hardliner ein unschätzbares Kapital, denn mit ihm ließe sich die verhasste Rohani-Regierung womöglich zu Fall bringen.

Nach wochenlangen Kleinkundgebungen in verschiedenen Städten wollte man am vergangenen Donnerstag aus Maschhad, der Stadt von Rohanis Rivalen, das größtmögliche Signal aussenden. Ursprünglich sollten einige hundert Menschen sich dort vor dem Rathaus versammeln und gegen Rohani protestieren. Doch diesmal hatten sich die Hardliner verkalkuliert.

Alles außer Kontrolle

Die Proteste wurden zu einem Bumerang, zu einer Staatskrise. Es kamen an diesem Tag plötzlich nicht einige Hundert, sondern mehrere tausend Menschen – und die waren in der Tat äußerst unzufrieden. Nicht nur mit der Regierung Rohani, sondern mit der Islamischen Republik insgesamt. Und in Windeseile verbreiteten sich über die sozialen Netzwerke zahlreiche Parolen gegen Revolutionsführer Ali Khamenei. Die Menge skandierte: "Lasst Syrien fallen, denkt an uns!", "Nieder mit dem Diktator!" oder "Nieder mit Khamenei!".

Eine Stunde nach dem Ende der Demonstration trat Vizepräsident Isaak Jahangiri vor die Presse und warnte die Rivalen in Maschhad: "Ihr mögt zu Demonstrationen aufrufen, aber ihr werdet nicht diejenigen sein, die sie am Ende auch kontrollieren können." Der Vizepräsident sollte Recht behalten. Maschhad war nur der Anfang und ein Signal für das restliche Land. Seitdem gehen täglich in Dutzenden Städten in sämtlichen iranischen Provinzen Menschen auf die Straße und skandieren gegen den Gottesstaat. Es sind die "Entrechteten", die einstige Massenbasis der Islamischen Revolution.

Und mittlerweile verlaufen die Proteste immer gewalttätiger. Bis Montagabend sollen nach offiziellen Angaben ein Dutzend Menschen getötet und mehrere hundert verhaftet worden sein. Sie sind bislang alle Opfer der Polizei, die dem Innenministerium untersteht. Die Revolutionsgarden harrten noch in ihren Kasernen aus, so die Erklärung eines Sprechers der Pasdaran am Montagabend.

Man habe zwar hier und da die paramilitärischen Milizen (Basidjis) aktivieren müssen, aber die Zeit für ein Eingreifen der Garden sei noch nicht gekommen, fügte er hinzu. Sie wird aber kommen, falls die Unruhen systemgefährdende Dimensionen annehmen sollten.

Und die Garden werden keine Brutalität scheuen, wie sie bei der sogenannten "Grünen Revolution" vor acht Jahren bewiesen haben. Allerdings hat die momentane Zurückhaltung der Garden noch einen anderen Grund: Mit den Demonstrationen in begrenztem Umfang waren sie – wie alle Hardliner – anfänglich ja einverstanden, solange diese sich gegen Präsident Rohani richteten. Ihre Presseorgane berichteten in den letzten Wochen täglich über die wirtschaftliche Misere des Volkes und zeigten Verständnis für die kleinen und großen Kundgebungen der Rentner, Arbeitslosen und betrogenen Sparer.

Frohlocken der Anti-Iran-Koalition

Gefährlicher könnten Zeit und Umstände wohl nicht sein, in denen all dies geschieht. Das Ausland, vor allem die US-Administration, schaut genau hin, was derzeit im Iran vor sich geht. "Das Erste, was Präsident Trump heute der Welt zu verkünden hatte war ein Tweet über die Unruhen im Iran abzusetzen", berichtete ein Reporter der BBC Persian am Sonntagabend. Und fast alle amerikanischen Politiker aus der ersten Reihe äußern sich beinahe stündlich zum Geschehen im Iran. "Der Präsident und ich werden die beschämenden Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen, als die anderen dastanden und den heroischen Widerstand des iranischen Volkes gegen das brutale Regime ignorierten", twitterte der US-Vizepräsident am Dienstag zu Beginn des ersten Arbeitstages im neuen Jahr.

Rohani fürchtet daher mehr den Druck aus dem Ausland als jenen aus der iranischen Provinz. Denn das Gelingen seiner Innenpolitik hängt von einer Normalisierung der Beziehungen des Irans mit der Außenwelt ab. Doch seine Außenpolitik, vor allem die regionale, bestimmen seine Rivalen: Revolutionsführer und -garden sowie die mit ihnen verbündeten mafiösen Kräfte. Es sind die Aktivitäten der Garden in der Region, namentlich im Irak, in Syrien, im Jemen und im Libanon, die nicht nur für Rohani, sondern für das ganze System existenzgefährdend sind. Eine mächtige Koalition bestehend aus Saudi-Arabien, Israel und den USA setzt alles daran, den Iran aus diesen Ländern zurückzudrängen.

Einstweilen ist der Internetzugang für Iraner seit vergangenem Sonntag nahezu gesperrt. Präsident Trump reagierte darauf umgehend per Twitter und schrieb: Der Iran, "Nummer-1-Sponsor des Terrors und stündlicher Verletzter von Menschenrechten", habe das Internet geschlossen, um friedliche Demonstranten an der Kommunikation zu hindern: "Not good!"

Ali Sadrzadeh

© Iran Journal 2018