Strategie der Unterdrückung

Ägyptens Behörden reagieren auf die jüngsten Kundgebungen im Land mit eiserner Härte, nachdem zuvor noch regimekritische Proteste zeitweilig toleriert wurden. Das ambivalente Vorgehen des Sicherheitsapparates wirft viele Fragen auf. Aus Kairo berichtet Sofian Philip Naceur.

Von Sofian Philip Naceur

Erstmals seit der Verabschiedung des restriktiven Demonstrationsgesetzes vom November 2013 zogen am 15. April wieder tausende ägyptische Oppositionelle auf die Straßen und demonstrierten gegen die Übergabe zweier Inseln im Roten Meer an Saudi-Arabien – aber auch gegen Präsident Abdel Fattah al-Sisi.

Während Sicherheitskräfte die meisten der landesweit organisierten Proteste schon nach Minuten auflösten, ließen die Behörden rund 3.000 Demonstranten vor dem Journalistensyndikat in Kairos Innenstadt zunächst gewähren. Erst nach Stunden begannen Beamten mit der Auflösung der nicht genehmigten Kundgebung. Tränengas wurde in die Menge gefeuert, dutzende Menschen wurden verhaftet. Dennoch ging die Polizei vergleichsweise zurückhaltend gegen die Demonstranten vor.

Widerstand im Keim erstickt

Angespornt von dem unerwarteten Freiraum mobilisierten zahlreiche Oppositionsgruppen wie die Bewegung des 6. April, die Revolutionären Sozialisten oder die Sozialdemokratische Partei für einen Aktionstag am 25. April. Doch diesmal setzte das Regime auf präventive Repression. Freiräume - wie noch zehn Tage zuvor - suchte man vergeblich. Jedweder Versuch, Proteste zu organisieren, wurde von Polizei, Geheimdienstbeamten und Spitzeln in Zivil bereits im Keim erstickt.

Das Journalistensyndikat, einer der am Vortag bekannt gegebenen Versammlungsorte für die Proteste, wurde noch vor Beginn der Kundgebungen hermetisch abgeriegelt. An der Metrostation Al-Behoos in Giza wimmelte es bereits am Vormittag vor Geheimdienstlern und Spitzeln, die Mobiltelefone und Kameras von Passanten und Journalisten überprüften, diese zwangen ihre Aufnahmen zu löschen und sie des Platzes verwiesen.

Proteste gegen die Übergabe von zwei Inseln an Saudi-Arabien vor dem Pressesyndikat in Kairo; Foto: Getty Images/AFP/Stringer
Massive Proteste gegen umstrittenen Insel-Deal mit Saudi-Arabien: Bei den Protesten gegen die ägyptische Regierung wurden am 25. April Menschenrechtlern zufolge Hunderte Menschen festgenommen. Sicherheitskräfte nahmen mindestens 238 Personen, darunter auch Ausländer, Aktivisten und Journalisten, in Gewahrsam, berichtete die Menschenrechtsorganisation Amnesty International. Amnesty bezeichnete die rigorosen Polizeimaßnahmen als "rücksichtslos effizient".

Demonstrationen einiger hunderter Aktivisten in Bulaq al-Dakrour und Dokki in Giza wurden nur Minuten nach Beginn mit Gewalt aufgelöst. Ähnlich verliefen Proteste in anderen Landesteilen. Rund 1.000 Menschen wurden verhaftet, die Hälfte davon jedoch zeitnah wieder freigelassen.

Sicherheitskräfte gingen derweil gezielt gegen die Presse vor. Insgesamt 43 Journalisten wurde im Tagesverlauf in Gewahrsam genommen. Während die sechs festgesetzten ausländischen Reporter noch am selben Tag wieder auf freien Fuß gesetzt wurden, verbleiben sieben ägyptische Journalisten bis heute hinter Gittern. Der Journalistenverband hat mittlerweile bei der Staatsanwaltschaft Beschwerde gegen die Übergriffe eingereicht.

Menschenrechtler unter Terrorverdacht

Auch Anwälte bekamen die harte Gangart des Regimes zu spüren. Vielen wurde der Zugang zu Polizeiwachen und damit zu ihren Mandanten verwehrt. Gegen mindestens zwölf Juristen wurden Haftbefehle erlassen, unter anderem gegen den Menschenrechtsanwalt Malek Adli. Während die NGO "Front zur Verteidigung ägyptischer Demonstranten" zwischen dem 15. und 27. April ganze 1.277 Verhaftungen zählte, habe die Staatsanwaltschaft Ermittlungsverfahren gegen 577 Menschen eingeleitet, so das Aktivistenbündnis.

Und einige dieser Verfahren haben es in sich. Die Anklagepunkte gegen Ahmed Abdallah, Aufsichtsratsvorsitzender der "Egyptian Commission for Rights and Freedom" (ECRF), umfassen neben Vorwürfen wie Aufrufen zur Gewaltanwendung gegen Regierung und Polizei und der Verbreitung von Falschnachrichten auch Anschuldigungen, die im Falle einer Verurteilung 15 bis 25 Haft nach sich ziehen können.

Abdallah wird die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und die indirekte Förderung terroristischer Straftaten durch die Nutzung des Internets vorgeworfen. Der 36 jährige Ingenieur war im Zuge der präventiven Verhaftungswelle in seiner Wohnung verhaftet worden und sitzt seither in der Polizeiwache in Tagammu Al-Khamis in Haft.

Demonstranten vor der ägyptischen Botschaft im Fall des ermordeten Studenten Giulio Regeni; Foto: picture-alliance/dpa/M. Percossi
Mysteriöser Foltermord: Der 28-jährige Giulio Regeni war am 25. Januar in Kairo verschwunden und neun Tage später tot aufgefunden worden. Sein Körper wies Zeichen schwerster Misshandlungen auf, darunter ausge-rissene Finger- und Fußnägel. Auch wurden ihm die Ohren abgeschnitten. Sicherheitskräfte hatten später vier Mitglieder einer Bande getötet, die auf die Entführung von Ausländern spezialisiert ge-wesen und den Studenten getötet haben soll. Italien glaubt jedoch nicht an diese Version.

Die zehn Anklagepunkte gegen Abdallah seien an Absurdität nicht zu überbieten, meint auch Franziska Brantner, Bundestagsabgeordnete der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Die Untersuchungshaft für Abdallah sei eine Willkürmaßnahme, um die ägyptische Opposition mundtot zu machen.

Fraglich bleibt, warum Abdallah terroristische Vergehen zur Last gelegt werden. Seine Verlobte, Esraa Shalaan, vermutet eine Rufmordkampagne hinter der Klage. Denn das einzige vorgelegte Beweisstück in der Anhörung sei ein Foto gewesen, das ihn bei dem Protest vor dem Syndikat am 15. April zeigt, erzählt sie.

Auch der geschäftsführende ECRF-Direktor, Mohamed Lotfy, kritisiert das Vorgehen gegen Abdallah. "Die Terrorismusanschuldigung gegen Abdallah und andere Aktivisten ist grotesk und durch keinerlei Beweise untermauert", sagt er.

Lotfy bringt die Verhaftung in Verbindung mit der Resolution, die Anfang 2016 im EU-Parlament verabschiedet wurde, und in der an die Führung in Kairo appelliert wird, Menschenrechtsstandards einzuhalten. In der Resolution, die sich mit dem Fall des in Kairo zu Tode gefolterten italienischen Doktoranden Giulio Regeni befasst und bei Ägyptens Regierung für einigen Unmut gesorgt hatte, wird die Menschenrechtsorganisation ECRF explizit erwähnt.

Spätestens damit hat sich die Organisation bei der Regierung in Kairo unbeliebt gemacht. ECRF hatte sich zudem jüngst in einigen Fällen engagiert, die massive internationale Aufmerksamkeit nach sich zogen. Die Organisation setzt sich für die Freilassung des 2015 zu zwei Jahren Haft verurteilten Arztes Ahmed Said ein und vertritt die Familie Regeni in Ägypten, auch weil Italiens Behörden nur begrenzten Zugang zu den Akten haben. Ein politisch motiviertes Vorgehen gegen ECRF wäre daher wenig überraschend.

Al-Sisis bei König Salman in Saudi-Arabien; Foto: picture alliance/ZUMA Press
Al-Sisis Stern beginnt zu sinken: Aktivisten beschäftigt die Frage, ob das ambivalente Vorgehen der Sicherheitskräfte im Umgang mit den Protesten am 15. und 25. April mit den regimeinternen Verwerfungen zu tun hat oder die Proteste gar gezielt toleriert wurden, um Al-Sisis Autorität zu untergraben.

Risse in Ägyptens "tiefem Staat"

Unterdessen mehren sich die Anzeichen, dass Präsident Al-Sisi zunehmend Gegenwind aus den eigenen Reihen entgegenbläst. Politische Kräfte, die den alten Seilschaften des 2011 gestürzten Expräsidenten Hosni Mubarak nahe stehen, machen keinen Hehl aus ihrer Opposition gegenüber Al-Sisi. Und selbst in der regimenahen Presse hagelt es Kritik an seiner Regierungsführung.

Auch vor diesem Hintergrund zeigten sich Aktivisten misstrauisch gegenüber den jüngsten Protesten – denn niemand will sich von den Al-Sisi kritisch gegenüber stehenden Fraktionen im Machtapparat für regimeinterne Machtkämpfe instrumentalisieren lassen.

Aktivisten stellten sich auch daher die Frage, ob das ambivalente Vorgehen der Sicherheitskräfte im Umgang mit den Protesten am 15. und 25. April mit den regimeinternen Verwerfungen zu tun habe oder die Proteste gar gezielt toleriert wurden, um Al-Sisis Autorität zu untergraben. Von der Hand zu weisen sind derlei Vermutungen nicht, doch bleiben sie vorerst Spekulation.

"Ich glaube nicht, dass Teile des Regimes versuchen Al-Sisi zu stürzen. Zwar arbeitet man gegeneinander, aber letzten Endes will niemand innerhalb des Regimes einem neuen Aufstand den Weg bereiten", meint ein führender Aktivist der Bewegung 6. April, der anonym bleiben will. Fest steht jedoch: Al-Sisis Stern beginnt zu sinken. Fraglich ist lediglich, ob sich innerhalb des Regimes eine Mehrheit findet, ihn früher oder später durch eine weniger polarisierende Figur zu ersetzen.

Sofian Philip Naceur

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