Am Scheideweg

Nach Ansicht des renommierten libanesischen Autors Elias Khoury stehen die arabischen Gesellschaften nach dem Sturz der alten Regimes vor einem nachhaltigen demokratischen Umbruch oder einer Rückkehr der Diktaturen unter neuem Namen.

Essay von Elias Khoury

Der Sieg der islamistischen Parteien bei den ersten demokratischen Wahlen ein Jahr nach dem Arabischen Frühling ist in erster Linie auf deren "Politik der Identität", einer Simplifizierung von Politik, zurückzuführen, die politisches Handeln auf ideologische oder religiöse Losungen verkürzt – und damit der Krise des demokratischen Wandels in den Ländern des Umbruchs nicht gerecht wird.

Die Politik der Identität in dieser Simplifizierung wirft ein Schlaglicht auf eines der wichtigsten, in Jahrzehnten der Diktatur entstandenen Phänomene, nämlich das moralische Vakuum. Die arabischen Putschistenregimes waren bereits mehrfach gescheitert und hatten die moralische Autorität der Politik ad absurdum geführt, noch bevor ihnen die Wucht der arabischen Revolutionen den Garaus machte.

Erstens scheiterten sie an ihrer Unfähigkeit, die "nationale Frage" zu lösen. Die beiden von ihnen für den arabisch-israelischen Konflikt angebotenen Lösungen kamen einer Katastrophe gleich: Einerseits die ägyptische Lösung, nämlich die Kapitulation durch das Abkommen von Camp David, und andererseits die anhaltende Verweigerung einer Verhandlungslösung, wie sie vom syrischen Regime praktiziert wird. Daraus ergab sich ein enormes Vakuum, das die beiden Regionalmächte Iran und Türkei zu füllen versuchten.

Zweitens scheiterten die arabischen Putschistenregimes, da sie nicht begriffen, als die Berliner Mauer fiel, dass ein kulturelles und weltanschauliches System kollabiert war.

Demonstranten verbrennen ein Bild des früheren Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali; Foto: AP/dapd
Abrechnung mit der verhassten Despotie: Demonstranten in Tunis verbrennen ein Bild des früheren Diktators Zine El Abidine Ben Ali, der 23 Jahre lang mit eiserner Hand sein Land regiert hatte.

​​Der sich am Modell Nordkoreas orientierende arabische Despotismus stürzte nicht nur durch Mechanismen wie die Vererbung der Macht, sondern versank letztlich auch im Sumpf des Tribalismus, Regionalismus und Konfessionalismus, so dass dessen politische Sprache sich letztlich als durchsichtiger Schleier entlarvt.

Drittens scheiterten sie daran, dass sie die negativen Seiten der Globalisierung sich zunutze machten, indem sie die Wirtschaft zur Geisel einer Familienmafia nahmen, welche raubte und zerstörte, aber keine gesellschaftliche Leistung erbrachte.

Viertens scheiterten sie, als sie um sich herum ein moralisches Vakuum schufen, das sie mit Lüge, Unterdrückung, Günstlingswirtschaft und Heuchelei ausfüllten. Schließlich stürzten die Regimes, nachdem sie die Gesellschaft erfolgreich ihrer Strukturen beraubt hatten, aus denen Politik erwächst, nämlich Parteien und Verbände, indem sie sich voll und ganz der Politik und der Medien bemächtigten, so dass die Zivilgesellschaft der Politik ihres eigenen Landes entfremdet wurde.

Die "Politik der Identität"

In diesem Klima brachen die Revolutionen aus, nachdem sich über lange Jahre vieles angestaut hatte. Sie waren wie ein Wunder, das dem Umstand geschuldet war, dass ein weiteres Abgleiten der Länder unmöglich geworden war. Dabei glichen die Revolutionen einer sozialen Eruption, die überwiegend von den neuen Eliten der Länder ausgelöst wurde.

Allerdings konnten diese Eliten sich nicht so rasch entwickeln, um die nötige politische Reife für eine erfolgreiche Revolution zu erlangen. Dies war der langen autoritären Herrschaft geschuldet, der eine solche Entwicklung nicht zuließ. Daher verlangt der Aufbau einer neuen demokratischen Ordnung eine relativ lange Übergangsphase.

Ägypterinnen in einem Wahllokal in Kairo; Foto: AP
Denkzettel für die säkular-liberalen Kräfte und Achtungserfolg für die Muslimbruderschaft und die konservative Al-Nour-Partei: Die islamistischen Parteien hatten bei den Parlamentswahlen in Ägypten laut offiziellem Endergebnis fast drei Viertel der Mandate gewonnen.

​​Unter diesen Umständen konnten sich bei den Parlamentswahlen die Träger einer "Politik der Identität" etablieren, indem sie sich als obligatorische Übergangslösung präsentierten. Das allein erklärt natürlich nicht den Erfolg der Islamisten. Sie siegten auch deshalb, weil sie zum Beispiel eine "legale" Opposition zum Regime in Ägypten darstellten beziehungsweise, wie in Tunesien, als konsequent geschlossene Einheit auftraten.

Wir sollten aber auch die Vorbilder Türkei und Iran sowie das politische Vakuum nicht übersehen, welches der Niedergang des Konzepts des arabischen Nationalismus aufgrund seiner Unfähigkeit hinterlassen hat.

Nicht unterschiedliche soziale, ökonomische und politische Programme wurden also gewählt, vielmehr fanden die Wahlen unter dem Etikett der Identität statt: die Islamisten auf der einen Seite und die säkularen Kräfte auf der anderen Seite, so als ob sich Politik auf die entsprechende Zugehörigkeit reduzieren ließe oder die sozialen, klassenmäßigen und politischen Unterschiede verschwinden würden, wenn man sich ein bestimmtes Identitätsetikett zulegt.

Die Islamisten haben letztlich auch aufgrund ihrer Fähigkeit gewonnen, das Bild der vorherrschenden regionalen Ordnung, in der die USA und Europa – auch über deren Verbündete am Golf – unmittelbar das Sagen haben, aufzubrechen. Diese Architektur basiert auf dem, was allgemein als "moderat" bezeichnet wird – eine Ordnung, die auf die Beseitigung oder den Aufschub der "nationalen Frage" abzielt, also des arabisch-israelischen Konflikts, da die auf dem Tisch liegenden friedlichen Optionen aufgrund der Blockadehaltung der israelischen Regierungen nicht durchsetzbar sind.

Elias Khoury; Foto: dpa
Elias Khoury warnt vor der Blockade einer demokratischen Transition durch die Armee: "Diese nämlich hat sich ihre Struktur bewahrt und ist somit nicht nur der entscheidende Machtfaktor im Staat, sondern agiert auch in der Wirtschaft und auf internationalem Parkett"

​​Es wird sich aber mit Sicherheit noch zeigen, dass dieses Ordnungsmodell realitätsfremd ist, denn Ideologien sind selbst dann, wenn sie stark auf Identitäten rekurrieren, nicht in der Lage, die Gesellschaft dauerhaft im Zaum zu halten und die Macht zu zementieren.

Die arabischen Gesellschaften können nur durch eine ideologiefreie, ausgewogene Politik, durch tatsächliche Lösungsansätze zur Beseitigung der Armut, der Arbeitslosigkeit sowie durch eine gerechte Verteilung der wirtschaftlichen Reichtümer prosperieren.

Der schwere Weg der Islamisten

Allerdings sind die Islamisten nach ihrem Sieg nicht gerade auf Rosen gebettet, denn die Frage, was politische Macht im Staat bedeutet, bleibt weiterhin ungeklärt, insbesondere wenn es um Rolle der Armee geht. Diese nämlich hat sich ihre militärische Struktur bewahrt und ist somit nicht nur der entscheidende Machtfaktor im Staat, sondern agiert auch in der Wirtschaft und auf internationalem Parkett.

Dieser Militäraristokratie kann man sich nicht mit nebulösen Identitätslosungen entledigen. Vielmehr verlangt die Situation nach genauen Vorstellungen darüber, wie ein ziviler Staat als ausgleichendes Element in der Gesellschaft wieder aufgebaut werden kann. Das bedeutet, dass die heute vorherrschende Politik der Identität lediglich eine Übergangsphase darstellt. Dagegen sind zwei Zukunftsszenarien wahrscheinlicher:

Erstens: Die nationalistische und demokratische Variante, die von den revolutionären Kräften, den Aktivisten des Tahrir-Platzes und anderer "Revolutionsplätze" in den verschiedenen arabischen Ländern favorisiert wird, sieht vor, neue politische Strukturen zu schaffen, mit denen über eine von Moral und Ehrlichkeit geprägte Politik ein demokratischer Staat aufgebaut wird. Einerseits eröffnet diese Option Perspektiven für eine wirkliche Demokratie, für soziale Gerechtigkeit und nationale Unabhängigkeit. Andererseits wird damit auch der politischen und wirtschaftlichen Kooperation und Integration der arabischen Welt zum Durchbruch verholfen.

Die andere Option wäre die Rückkehr der Diktaturen unter neuem Namen, wobei die Vorstellung eines Bündnisses zwischen der Armee und den islamistischen Strömungen keineswegs abwegig erscheint. Diese beiden Optionen stellen die Wegweiser an einem Scheideweg dar, vor dem die arabische Welt heute steht – einem wichtigen historischen Wendepunkt, der das Schicksal der Araber für die nächsten Jahrzehnte bestimmen wird.

Elias Khoury

© Qantara.de 2012

Elias Khoury, geboren 1948 in Beirut, ist Romancier, Dramatiker, Literaturkritiker und Redakteur. Er war Aktivist der palästinensischen Befreiungsorganisation Fatah und ist einer der tonangebenden Schriftsteller und Intellektuellen der arabischen Welt. Er ist Autor von zehn Romanen und drei Theaterstücken. Khoury lebt heute in Beirut.

Übersetzt aus dem Arabischen von Gert Himmler

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de