Interner Kolonialismus und Konterrevolution

Wenn eine herrschende Elite die Institutionen und Ressourcen des Staates kontrolliert und sie zum eigenen Nutzen verwendet, kann man dies "internen Kolonialismus" nennen. Dieser stellt sich in der arabischen Welt in schlimmster Ausprägung dar. Der syrische Autor Louay Safi glaubt allerdings, dass die arabischen Völker sich dieses Kolonialismus entledigen werden.

Essay von Louay Safi

Der Begriff des "internen Kolonialismus" geht zurück auf lateinamerikanische Autoren, die damit die Beziehung herrschender Eliten zum Volk beschrieben. Kolonial, so ihre Begründung, sei diese Herrschaftsbeziehung deshalb, weil die Ausbeutung, auf der sie beruht, kaum anders beschaffen ist als die zwischen einer äußeren Kolonialmacht und der von ihr unterworfenen Nation.

Eliten kontrollieren die staatlichen Institutionen und benutzen diese dafür, eigene Interessen durchzusetzen, ohne sich dabei um das Wohlergehen des armen Teils der Bevölkerung zu kümmern. Sie steuern Wirtschaft und Handel und setzen Armee und Polizei in ungesetzlicher Weise dafür ein, Dissens zu unterdrücken und konkurrierende politische Kräfte zurückzudrängen.

Und während es dem Volk wirtschaftlich immer schlechter geht und niemand es beschützt, leben die Eliten in befestigten Wohnanlagen, schicken ihre Kinder auf Privatschulen, nutzen alle Arten von Grundversorgung und Luxus und kümmern sich nicht um die Situation der Bevölkerungsmehrheit.

Dieses ausbeuterische koloniale Modell besteht in der arabischen und islamischen Welt in schlimmster Ausprägung. Es entstand zuerst im Pakistan der siebziger Jahre, wo der Armee seit jeher der größte Teil des Staatshaushaltes zufließt und diese dem Privatsektor in Handel und Industrie Konkurrenz macht. Offiziersfamilien leben in eigenen Wohnanlagen isoliert vom Volk, ihre Kinder gehen auf Privatschulen und bekommen Stipendien, während die Mehrheit der Pakistaner in Armut lebt, keinen Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen und Gesundheitsversorgung hat und nur eine schwache Bildung erhält.

Kolonialismus nach innen: Beispiel ägyptische Armee

In den achtziger Jahren wurde das pakistanische Modell auch in Ägypten übernommen. Nachdem Ägypten im Jahre 1979 einen Friedensvertrag mit Israel geschlossen hatte, wurde die ägyptische Armee in ein kommerzielles Unternehmen umgewandelt. Die herrschende Klasse sonderte sich zugleich vom Volk ab, siedelte sich in speziellen Wohnvierteln mit eigenen Supermärkten, Clubs und Privatschulen an und verfügt dort über eine eigene Strom- und Wasserversorgung und Sonderbewachung. Dagegen genießt die Mehrzahl der Ägypter keine staatliche Versorgung und findet keine Arbeit, während die Lebenshaltungskosten immer weiter steigen und die Ressourcen schwinden.

Demonstration in Tripolis; Foto: dpa
Aufbegehren gegen die Allmacht der Diktatoren: Der arabische Frühling wollte diesen Zustand überwinden und die Bevölkerung in die Lage versetzen, seine Führung selbst zu wählen und zur Verantwortung zu ziehen. Eine Revolte folgte auf die nächste, während die Militärregime alle Forderungen nach Reform niederschlugen und ihren internen Kolonialismus weiterführten.

Der arabische Frühling hat deutlich gezeigt, dass die arabischen Militärregime Kolonialismus nach innen praktizieren. Dieser offenbart sich in jedem Land, in dem die Herrschenden befestigte Kolonien für sich selbst schaffen und ausbauen. Es sind Kolonien, in denen sie sich um den Überlebenskampf des gemeinen Volkes nicht zu scheren brauchen. Dies ist ein Schema, das sich in allen Staaten zeigt, die sich eigentlich vom europäischen Kolonialismus befreit hatten, aber nur, um danach wiederum einem internen Kolonialismus zu unterliegen. Dieser ist so unerbittlich, dass manche Betroffene sich schon wieder einen Kolonialismus von außen zurückwünschen.

So geschah es in Syrien unter Assad, in Tunesien unter Ben Ali, in Libyen unter Gaddafi und im Jemen unter Salih, und überall war es dasselbe: Die regierenden Eliten wollten sich mit den Großmächten gutstellen und ihre eigene Privilegien sichern. Dabei zeigten sie gegenüber dem jeweils eigenen Volk Gleichgültigkeit und Arroganz.

Syrien als Privatfarm Assads

Syrien kann vielleicht als schlimmstes Beispiel für internen Kolonialismus in der arabischen Welt gelten. Nicht nur, weil das Assad-Regime bewiesen hat, dass es zu den blutigsten und brutalsten Kolonialregimen gehört, sondern auch weil es offenbar bereit ist, Souveränität, Würde, Land und Ehre zu opfern, die Zukunft des Landes zu verpfänden, sich mit gierigen Mächten zu verbünden und die eigentlichen Gegner ruhigzuhalten, nur um eine Autokratie zu verewigen.

Der arabische Frühling wollte diesen Zustand überwinden und die Bevölkerung in die Lage versetzen, seine Führung selbst zu wählen und zur Verantwortung zu ziehen. Eine Revolte folgte auf die nächste, während die Militärregime alle Forderungen nach Reform niederschlugen und ihren internen Kolonialismus weiterführten. Wie zu erwarten war, betrieb der jeweils über Jahrzehnte entstandene tiefe Staat Konterrevolutionen, um zu verhindern, dass die Reformbewegungen ihre Ziele erreichten.

Aber diese werden scheitern, denn sie zielen darauf ab, Regime zu erhalten, die von Korruption zerfressen sind und nur noch als Fassade existieren. Alles deutet darauf hin, dass die arabischen Völker sich vom internen Kolonialismus befreien werden und dass die Militärregime, die ihre Waffen und ihre Repressionsmaschine dazu einsetzen, die eigene Bevölkerung zu unterdrücken, langsam an ihren eigenen Intrigen, ihren Verbrechen und ihrer Korruption ersticken werden. Die arabischen Völker werden aufatmen können, und der Alptraum der Tyrannei wird enden.

Die Völker werden trotz oder gerade wegen der Unterdrückung und der Willkür ihren Weg zur Befreiung finden!

Louay Safi

© Qantara.de 2015

Aus dem Arabischen von Günther Orth

Der syrische Publizist und Politikwissenschaftler Louay Safi ist Autor zahlreicher Bücher zur Arabellion.