Die dunkelste Nacht der Istiklal

Zum ersten Mal thematisiert eine Ausstellung den Pogrom an den Istanbuler Griechen 1955. Hier stellt sich die Türkei einer dunklen Seite der Vergangenheit. Von Christiane Schlötzer

Istiklal-Straße in Istanbul; Foto: dpa
Die Istiklal-Straße - heute eine beliebte Shopping-Meile - war Schauplatz der "türkischen Bartholomäusnacht"

​​Die Istiklal-Straße ist die Herzschlagader Istanbuls. Eine Einkaufs- und Ausgehmeile, um die sich in einem Gewirr von Gassen hunderte von Bars und Restaurants angesiedelt haben. Das junge Volk, das hier jeden Abend sein Vergnügen sucht, findet in diesen Tagen mitten auf der Istiklal großformatige Plakate. Sie zeigen die Prachtstraße in Scherben.

Die Bilder gehören zu einer Ausstellung, die an die dunkelste Nacht der Istiklal, der einstigen Grande Rue du Pera, erinnert. Vor 50 Jahren, in der Nacht vom 6. auf den 7. September 1955, zogen johlende Horden durch die Istiklal, ausgerüstet mit Äxten und Dynamit. Sie brandschatzten und plünderten die Geschäfte aller Griechen. In ganz Istanbul, überall, wo Hellenen lebten, zerstörte der Mob mehr als 4000 Läden, über 70 Kirchen und 30 Schulen. Priester wurden verprügelt und selbst Friedhöfe nicht verschont.

Schwingende Röcke und Schlagstöcke

Diese Nacht war eine Nacht der Schande für die Türkei. Ein halbes Jahrzehnt später werden nun auf der Istiklal Bilder jener Nacht gezeigt, wie sie Istanbul noch nicht gesehen hat. Da gibt es Fotos von Frauen in den schwingenden Röcken der 50er Jahre, die mit Schlagstöcken auf Schaufenster eindreschen.

Viele Bilder hat der Geheimdienst gemacht, andere wurden ausländischen Reportern an der Grenze abgenommen. Gesammelt hat sie ein Militärrichter für einen Gerichtsprozess, der 1956 versuchte mit den Tätern abzurechnen, es aber doch nicht tat.

Fahri Coker, der wackere Richter, der nicht urteilen durfte, wie er wollte, bewahrte die 250 Bilder und zahlreiche Dokumente 40 Jahre lang bei sich auf. Dann vermachte er alles der privaten Istanbuler Geschichtsstiftung, der "Tarih Vakfi", mit der Auflage, vor seinem Tod nichts zu veröffentlichen. Coker starb 2001.

Auf das praktisch vergessene Konvolut stieß die junge türkische Historikerin Dilek Güven. Die wunderte sich nach dem Studium in Deutschland, wie wenig sich ihr Land mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen will, und recherchierte zum 6. September. Ohne die hartnäckige Doktorandin hätte es die Ausstellung wohl nicht gegeben.

Nach dem Motto "Verhaftet die üblichen Verdächtigen" schob Regierungschef Adnan Menderes 1955 die Schuld an dem Pogrom sofort den Kommunisten zu. Nach einem Militärputsch 1960 aber stand Menderes selbst vor Gericht. Die Generäle wollten ihrem Regime einen demokratischen Anstrich geben und ließen das dunkle Jahr 1955 aufarbeiten.

Bewusst angeheizte Stimmung

Schon in diesem Prozess wurde klar, dass die regierende Demokratische Partei, die DP, die Schläger organisiert und sie mit Zügen und Schiffen in die Stadt transportiert hatte. Vorbereitet wurde dies durch eine rassistische Pressekampagne, die das öffentliche Klima vergiftete.

Dies war nicht das erste Mal, dass die Minderheiten in der Türkei ins Visier gerieten. Praktisch seit Gründung der Republik durch Kemal Atatürk 1923 wurde die Türkei von dem Wahn verfolgt, ihre Minderheiten, vor allem Griechen und Armenier, könnten mit Ankaras Feinden gemeinsame Sache machen. Diese Angst, genährt vom Zerfall des Osmanischen Weltreichs, wurde immer wieder von der türkischen Politik instrumentalisiert.

In dieses Muster passt auch das von Ankara inszenierte Schurkenstück: ein Anschlag auf das Atatürk-Geburtshaus in Thessaloniki sollte am Vorabend des 6. September die Emotionen anheizen, was auch gelang. Gewehre teilten die Anstifter an die Massen nicht aus, und doch gab es rund 30 Tote und hunderte Verletzte.

Ausschreitungen als Ablenkungsmanöver

Menderes wollte mit den angezettelten Ausschreitungen vom Scheitern seiner liberalen Wirtschaftspolitik ablenken. Am 7. September verhängte er auch sogleich den Ausnahmezustand. Aber dies allein erklärt die "türkische Bartholomäusnacht" (so der Autor und Augenzeuge Aziz Nesin) nicht.

Istiklal-Straße in Istanbul; Foto: dpa
Heute leben am Bosporus nur noch rund 2000 Istanbuler Griechen

​​"A few riots in Ankara would do us nicely!" ("Ein paar Unruhen in Ankara kämen uns gelegen") notierte bereits im September 1954 ein britischer Diplomat. Die Kolonialmacht Großbritannien wurde damals auf Zypern von der griechischen Widerstandsbewegung EOKA schwer bedrängt. London wünschte sich zur Entlastung ein Engagement der Türkei. Ankaras Außenminister Fuat Köprülü aber wollte davon nichts wissen. Zypern sei kein türkisches Thema, sagte er.

Doch der Beschwichtiger Köprülü, der 1960 gegen Menderes aussagte, wurde Ende Juli 1955 durch den Scharfmacher Fatin Rüstü Zorlu ersetzt. Der sicherte sich die Unterstützung des Nationalisten-Vereins Kibris Türk Cemiyeti ("Zypern ist türkisch") als Kern der Schlägertruppe.

So wurde die griechische Minderheit, die seit Byzanz am Bosporus überdauerte, 1955 erstmals zur Geisel des bis heute ungelösten Zypern-Konflikts. Die Mehrheit der 100.000 Istanbuler Griechen verließ die Stadt dann mit der nächsten Zypern-Krise 1964.

Schweigen auf beiden Seiten

An einem prächtigen Gebäude auf der Istiklal weht heute wieder die griechische Fahne. In dem Haus residiert das griechische Konsulat. Dessen Präsenz hier hat hohen Symbolwert. Das griechisch-türkische Verhältnis ist mittlerweile entspannt und bleibt doch delikat.

Über das finstere Jahr 1955 wurde auch in Griechenland lange nicht gesprochen. Athen wollte die Griechen möglichst in Istanbul halten. Heute leben am Bosporus aber nur noch rund 2000 "Rum", wie die Istanbuler Griechen heißen.

90 Prozent der Läden auf der Istiklal hatten 1955 griechische, armenische oder jüdische Besitzer. Im Furor der Nacht wurden auch deren Geschäfte zertrümmert. Hier mischten sich Nationalismus und Neid auf die erfolgreichen Minderheiten.

Die Ausstellung auf der Istiklal hat in den türkischen Medien große Resonanz gefunden. CNN-Türk drehte einen schonungslos-ehrlichen Film über die Nacht der Schande. Die Türkei hat nun doch mit der Vergangenheitsbewältigung begonnen.

Christiane Schlötzer

© Qantara.de 2005

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