Der vergessene "Gandhi" des Islam

Khan Abdul Ghaffar Khan war der Gründer der weltweit ersten professionellen gewaltlosen Armee. Bei uns ist der islamische Gandhi kaum bekannt. Dabei ist sein Erbe heute relevanter denn je. Ein Porträt des paschtunischen "Badshah Khan" von Marian Brehmer

Von Marian Brehmer

Als Hillary Clinton im September 2009 zum islamischen Fastenbrechen (Iftar) in das amerikanische Außenministerium einlud, zitierte sie bei ihrer Ansprache an die Gäste einen im Westen praktisch unbekannten Mann. Wir müssten uns, so führte Clinton aus, von unseren Anführern dazu inspirieren lassen, Armut, Ungerechtigkeit und Hass “mit den Waffen des Propheten zu bekämpfen - Geduld und Rechtschaffenheit”.

Der Ausspruch über den Propheten stammte von einem paschtunischen Freiheitskämpfer mit dem Namen Khan Abdul Ghaffar Khan, der vor 30 Jahren im pakistanischen Peschawar starb. Khan war neben Mahatma Gandhi einer der wichtigsten Persönlichkeiten des indischen Unabhängigkeitskampfs gegen die Briten. Aufgrund seines unerschütterlichen Glaubens an das Prinzip der Gewaltlosigkeit bei der Mobilisierung der paschtunischen Grenzbevölkerung brachte sich Khan den Beinamen “Frontier Gandhi” ein, der Gandhi von der Grenze.

Während Khan in Indien und Pakistan vielen nach wie vor ein Begriff ist - sein Gesicht taucht in den meisten Gandhi-Ausstellungen auf - weiß die Welt von heute wenig von diesem Mann, der sein Leben dem friedlichen Widerstand der Paschtunen gegen die Briten widmete. Zu sehr steht Khan im Schatten von Mahatma Gandhi.

Khan Abdul Ghaffar Khan verschrieb sich früh dem sozialen Wandel in den paschtunischen Provinzen, die als Teil Britisch-Indiens dem Kolonialregiment der Engländer unterstanden. Im Alter von 20 Jahren gründete Khan in der Nähe von Peschawar eine Schule. Ihm selbst war eine weiterführende Schulbildung verwehrt geblieben. Khan schloss sich bald einer paschtunischen Widerstandsbewegung an, die jedoch rasch von den Briten niedergeschlagen wurde. Auch seine Schule wurde von den Kolonialherren geschlossen. In den Folgejahren bereiste Khan 500 paschtunische Dörfer, um das Einheitsbewusstsein der Paschtunen anzuheben. Für seinen unermüdlichen Aktivismus verlieh man ihm den Spitznamen "Badshah Khan" (König der Stammesführer).

Spirituelle Nähe zu Mahatma Gandhi

Khan Abdul Ghaffar Khan; Quelle: DW
Khan Abdul Ghaffar Khan: "Ich glaube an Gewaltlosigkeit und ich sage, dass kein Frieden und keine Ruhe bei den Menschen der Welt einkehren wird, bevor sie nicht Gewaltlosigkeit praktizieren, denn Gewaltlosigkeit ist Liebe und diese erweckt Mut in den Menschen."

Im Jahr 1928 traf Khan zum ersten Mal auf Mahatma Gandhi und schloss sich dem indischen Nationalkongress an, der führenden Bewegung des indischen Unabhängigkeitskampfs. Die Ideale des Mahatmas von gewaltlosem Widerstand und zivilem Ungehorsam, die dieser nicht nur predigte, sondern ganz und gar lebte, hinterließen einen starken Eindruck bei Khan. Zwischen den beiden entstand enges Vertrauensverhältnis, das zum Symbol für den religiösen Pluralismus des Subkontinents wurde. Der Muslim suchte nicht nur politischen Rat bei Gandhi, sondern auch die spirituelle Nähe des geborenen Hindus.

Schon rein optisch war dies eine überraschende Freundschaft: Khan konnte mit seinen mehr als hundert Kilo Gewicht und einer Körpergröße von über 1,80 Meter dem schmächtigen Gandhi über den Kopf schauen.

Für Khan stellte die Philosophie des Mahatmas die wichtigste Inspirationsquelle für den Wandel dar, den er in die paschtunische Gesellschaft bringen wollte; einer Gesellschaft, die von Jahrhunderten Unterdrückung, Gewalt sowie inneren und äußeren Konflikten gezeichnet war. Und so lag das größte Hindernis in Khans Aktivismus nicht in der Gegnerschaft der Briten, sondern in den vorherrschenden Denkmustern seiner eigenen Landsmänner: rigoroses Stammesdenken, Rache und ein archaischer Ehrbegriff, der oftmals zu Blutfehden zwischen Familien führte, bestimmten das Leben im Nordwesten des indischen Subkontinents.

In seinem Buch "Nonviolent Soldier of Islam" beschreibt der indische Philosoph Eknath Easwaran Khan und seine unbequeme Botschaft an die Paschtunen so: "Niemand spürte diese Widersprüche [in der paschtunischen Gesellschaft] stärker als Badshah Khan und niemand war sich so sehr des Preises bewusst, den die Paschtunen für ihre Gewaltverliebtheit zahlen mussten. Er vertrat die Ansicht, dass sie allein aufgrund ihrer selbstzerstörerischen Tendenzen ihrer Freiheit beraubt wurden".

Angesichts der gewaltigen Herausforderung für Khan, ist seine Lebensleistung beeindruckend und bis heute wohl beispiellos: Im Jahr 1929 gründete Khan die Bewegung der "Khudayi Khidmatgar" (Diener Gottes), der sich über einhundert Tausend Paschtunen anschlossen. Mit den "Waffen" des Propheten - Geduld und Rechtschaffenheit - ausgerüstet schwor Khan die Anhänger der "Khudayi Khidmatgar" auf vollkommenen Gewaltverzicht bei ihrem Kampf gegen die Briten ein. Die paschtunische Bewegung wuchs so zur ersten professionellen gewaltlosen Armee der Welt heran. Jeder Anwärter der "Khudayi Khidmatgar" musste vor Beitritt einen Eid ablegen, in dem er sich dazu verschrieb, der Menschheit zu dienen, seinen Unterdrückern zu vergeben und täglich zwei Stunden soziale Arbeit zu verrichten.

Das Massaker vom Qissa Khwani Bazaar in Peschawar am 23. April 1930, bei dem die Briten rund 250 unbewaffnete Männer der "Khudayi Khidmatgar" niederschießen ließen, wurde zur härtesten Bewährungsprobe für Khans Bewegung. Doch trotz der massiven Gewaltanwendung durch die Kolonialmacht blieben Khans Männer den Waffen fern. Die Briten waren ihrerseits von der Gewaltlosigkeit der Paschtunen überrascht. Das Massaker wurde zu einem wichtigen Momentum im indischen Unabhängigkeitskampf und rief im ganzen Subkontinent Bestürzung hervor. Khan Abdul Ghaffar Khan schrieb später: "Die Briten fürchteten einen gewaltlosen Paschtunen mehr als einen gewalttätigen. All die Schrecken, welche die Briten über die Paschtunen brachten, hatten nur ein Ziel: sie zur Gewaltanwendung zu provozieren".

Wegweisender Pazifismus auf dem Fundament des Islam

Khans Pazifismus, den er gänzlich auf das Wertefundament des Islam aufbaute, ist gerade heute in vielerlei Hinsicht wegweisend. Auf Grundlage von islamischen Prinzipien - wie universeller Brüderschaft sowie Hingabe und Dienst an Gott durch den Dienst an seinen Geschöpfen - leitete er nicht nur eine nachhaltige Transformation der bis dahin als gewaltvernarrt geltenden Gesellschaft ein, sondern trug entscheidend zum Erfolg des indischen Unabhängigkeitskampfes bei.

Umso tragischer erscheint Khans Leben nach der Unabhängigkeit Indiens und der Abspaltung Pakistans im Jahr 1947. Als Führer einer paschtunischen Oppositionspartei,  der "Pakistan Azad Partei", saß der "Badshah" jahrelang in pakistanischen Gefängnissen. Die Behandlung, welche er durch die Behörden des neu gegründeten pakistanischen Staates erfuhr, beschrieb Khan als schlechter als den Umgang der Briten mit ihren Gefangenen. Auch Amnesty International machte in den 1960er Jahren auf Khans damalige Gefangenschaft aufmerksam.

In der Zeit der Militärregierung verbrachte Khan sechs Jahre in der Stadt Jalalabad im afghanischen Exil. 1984 wurde er für den Friedensnobelpreis nominiert. Vier Jahre später starb Khan im Alter von 97 Jahren unter Hausarrest in Peschawar. Um die Beerdigung in seinem Wohnhaus in Jalalabad zu ermöglichen, vereinbarten die Kriegsparteien, die sich in Afghanistan im Konflikt mit der Sowjetunion befanden, einen kurzzeitigen Waffenstillstand. Zehntausende überquerten damals von Pakistan aus den Khyberpass, um an Khans Beerdigung teilzunehmen.

Augenscheinlich konnte Khan selbst mit seinem Tod, zumindest für ein paar Tage, Frieden herbeiführen. Doch Afghanistan sollte schon bald in einen blutigen Bürgerkrieg rutschen, an dem die Paschtunen und Pakistan eine wesentliche Mitschuld tragen. Khans Worte aus dem Jahr 1985 haben somit bis heute nichts an Aktualität verloren: "Die Welt heute bewegt sich in eine sonderbare Richtung. Sie sehen, dass die Welt auf Zerstörung und Gewalt zugeht. Die Besonderheit von Gewalt ist, dass sie Hass und Angst unter Menschen schürt. Ich glaube an Gewaltlosigkeit und ich sage, dass kein Frieden und keine Ruhe bei den Menschen der Welt einkehren wird, bevor sie nicht Gewaltlosigkeit praktizieren, denn Gewaltlosigkeit ist Liebe und diese erweckt Mut in den Menschen".

Gerade in einer Zeit, in denen der Islam in erster Linie mit Gewalt in Verbindung gebracht wird, ist es weise, sich mit Khans Idealen zu beschäftigen - als ein schillerndes Beispiel dafür, wie der Islam in den richtigen Händen zu einer Kraft der positiven Veränderung werden konnte. Der Philosoph Easwaran urteilte über Khan: "Wäre sein Beispiel besser bekannt, so würde die Welt vielleicht verstehen, dass die höchsten religiösen Werte des Islam kompatibel mit einem Verständnis für Gewaltlosigkeit sind, welche die Kraft besitzt, selbst aussichtslose Konflikte zu lösen".

Hillary Clinton jedenfalls hatte mit ihrem Khan-Zitat im Ramadan 2009 eine hervorragende Wahl getroffen.

Marian Brehmer

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