Teile und herrsche

Nach dem Wahlsieg der "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" in Marokko dürfte das Programm des Königs wohl die Entzauberung der Islamisten durch deren Beteiligung an der Macht lauten, meint Sonja Hegasy.

Am 29. November 2011 wurde der Generalsekretär der "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" (PJD), Abdelilah Benkirane, von Mohammed VI. zum Premierminister ernannt und mit der Regierungsbildung beauftragt. Stolz berichtete Benkirane, dies sei das erste Mal, dass er persönlich mit dem König gesprochen habe.

Benkiranes moderat islamistische PJD hatte bei den Parlamentswahlen mit 107 Sitzen eine deutliche Mehrheit erringen können. Offensichtlich konnte die PJD ihre Anhängerschaft vergrößern. Für viele Wähler aus der bürgerlichen Mittelschicht war sie die offenbar einzig verbliebene Alternative zum verbrauchten Establishment.

Doch darf man nicht vergessen, dass das Parlament 2011 um 70 Sitze vergrößert wurde. So gibt es eigentlich nur Sieger, denn alle fünf großen Parteien haben Sitze hinzugewonnen. Die "Partei für Authentizität und Modernität", die den Modernisierungsweg des Königs zum Parteiprogramm erklärt hat, kam im ersten Anlauf auf 47 Sitze. Sie war erst 2008 von Fouad Ali Himma, einem Vertrauten des Königs gegründet worden. Gegen ihn, als einem Symbol der Monarchie, richteten sich 2011 viele der Proteste.

Geringe Wahlbeteilligung

Abdelilah Benkirane von der PJD; Foto: dpa
Ein gutes Ergebnis, aber kein Erdrutschsieg: Benkiranes PJD hatte bei der Parlamentswahl mit 107 von 395 Sitzen doppelt so viele Mandate wie die zweitstärkste Partei gewonnen. Nun muss sie sich um einen Koalitionspartner bemühen.

​​Die Wahlbeteiligung stieg nach offiziellen Zahlen leicht von 37 auf 45 Prozent, aber nur die Hälfte der Marokkaner ist überhaupt auf den Wahllisten eingeschrieben. Die illegale islamistische Organisation "Al-Adl wal-ihsan" (Gerechtigkeit und Wohlfahrt) widerspricht diesen Angaben und geht von nur 25 Prozent Wahlbeteiligung aus.

Dies wäre ein eindeutiges Votum gegen die graduelle Reformpolitik des Königs. Die Kräfte, die auf einen tiefgreifenden Wandel der marokkanischen Politik setzen, haben sich durch die Verfassungsänderung vom 1. Juli dieses Jahres nicht überzeugen lassen. Sowohl die Jugendbewegung vom 20. Februar als auch "Gerechtigkeit und Wohlfahrt" und einige der kleinen linken Splitterparteien hatten zum Boykott der Wahlen aufgerufen.

Warum aber veröffentlicht die marokkanische Regierung nur die Sitzverteilung im Parlament, nicht aber wie in den Vorjahren wie viel Prozent der abgegebenen Stimmen jede Partei bekommen hat? Die PJD wird ihren Anteil knapp verdoppelt haben. Damit käme sie auf einen Stimmanteil von ca. 22 Prozent. Dies ist ein gutes Ergebnis, auf das die Partei schon 2007 gehofft hatte – aber es ist kein Erdrutschsieg.

Entscheidend ist, dass der König mit der Verfassungsänderung jetzt zum ersten Mal den Wahlgewinner zum Premierminister ernennen muss. So hat der König Abdelilah Benkirane mit der Bildung des Kabinetts beauftragen müssen. Die sozialistische USFP berät noch, ob sie für eine Koalition mit den Islamisten zur Verfügung steht.

Keine Gefahr für die Monarchie

Vor der Wahl hatte es skeptische Stimmen gegeben, Mohammed VI. könne diese Neuerung der Verfassung doch umgehen. Aber in der Aufbruchsstimmung von 2011 kam die PJD der Monarchie gelegen. Sie kann nun einen Islamisten an die Macht lassen, der seine staatstragende Haltung immer wieder publik gemacht hat.

Aktivisten der Jugendbewegung 20. Februar; Foto: DW
Für einen landesweiten Wahlboykott: Die Jugendbewegung 20. Februar als auch "Gerechtigkeit und Wohlfahrt" sowie einige kleine linke Splitterparteien hatten die Bevölkerung aufgerufen, den Wahllokalen fern zu bleiben.

​​Der König hat so Zeit gewonnen. Von der PJD geht keine Gefahr für die Monarchie aus. Im Gegenteil, Benkirane hat die Jugendbewegung im Vorfeld der Wahlen brüskiert und seine Partei als wahre Hüterin der Monarchie dargestellt. Das ging auch den Islamisten um Abdessalam Yassine zu weit. 2007 hatten sie ihre Anhänger noch aufgerufen für die PJD zu stimmen; diesmal setzten sie auf den Boykott.

Benkirane hat jedoch nach 35-jähriger politischer Arbeit sein Ziel erreicht. Er kommt aus der ehemals gewaltbereiten islamistischen Jugendbewegung ("shabiba islamiya") der siebziger Jahre und war lange Führer der Bruderschaft "Reform und Erneuerung". Seit 1992 hat er mehrere Anläufe zur Gründung einer Partei unternommen, allerdings immer in konservativen und palastnahen Kreisen.

So wandte er sich 1992 zunächst an die langjährige Regierungspartei "Istiklal". 1996 tat er sich mit Abdelkrim Khatib zusammen, um die kaum noch funktionierende Partei "Mouvement populaire, constitutionnel et démocratique" mit der spirituellen Bewegung "Einheit und Reform" zur PJD zu fusionieren.

Wahllokal in der marokkanischen Hauptstadt Rabat; Foto: dpa
Ein Votum gegen die graduelle Reformpolitik des Königs? Die Wahlbeteiligung war mit 45 Prozent zwar niedrig, fiel jedoch höher aus als die bei den Parlamentswahlen 2007 registrierten 37 Prozent.

​​Dies geschah auch auf Initiative des damaligen Innenministers Driss Bassri. So konnte zum einen eine islamistische Alternative im marokkanischen Parteienpluralismus aufgebaut werden; zum anderen war mit Khatib ein Getreuer der Monarchie am Werk.

Kein Wolf im Schafspelz

In seiner ersten Stellungnahme betont Benkirane, Marokko sei bereits seit vier Jahrhunderten ein islamischer Staat. Ihm gehe es vielmehr um die sozio-ökonomischen Herausforderungen. Er wolle nicht in das Privatleben der Marokkaner hineinregieren. Von einem Alkoholverbot ist er daher schnell abgerückt. Vielleicht wird die Mehrwertsteuer für Alkoholika erhöht?

Benkirane selbst hat vier seiner sechs Kinder adoptiert, obwohl dies nach orthodoxem islamischen Verständnis nicht möglich ist. Im 14-seitigen Parteiprogramm der PJD wird das Wort "Islam" nur vier Mal erwähnt: mit Bezug auf die lokalen Werte und auf das Wirtschaftsrecht. Dass der Islam keine statische Religion ist, hat Benkirane schon vielerorts verkündet. Ein Wolf im Schafspelz ist er nicht.

Zentraler Begriff ist bei ihm das Gemeinwohl. Wird er aber den Mut haben, dem König bei wichtigen Themen, wie Umverteilung des Reichtums, gerechte soziale Investitionen oder Korruption die Stirn zu bieten? Die Entzauberung der Islamisten durch die Beteiligung an der Macht dürfte das Programm Mohammed VI. lauten. Eine Audienz war der erste Schritt.

Sonja Hegasy

© Qantara.de 2011

Sonja Hegasy ist Islamwissenschaftlerin und Vizedirektorin des Zentrums Moderner Orient (ZMO) in Berlin.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de