Ohne große Auswahl

Überschattet von einem Boykott der Opposition ist in Jordanien ein neues Parlament gewählt worden. Doch den Kandidaten ging es auch diesmal wieder mehr um Posten als um Inhalte. Christoph Dreyer berichtet.

Wahlhelfer trägt Urne, Parlamentswahlen in Jordanien; Foto: AP
Fehlende politische Debattenkultur: Das jordanische Wahlsystem begünstigt Stammesvertreter und Einzelkandidaten, die meist den Regierungskurs mittragen.

​​ "Im neuen Parlament wird es weder eine Opposition im herkömmlichen Sinn geben, noch werden die Parteien ernsthaften Einfluss haben", sagt Oraib al-Rantawi, Direktor des Al-Kuds-Zentrums für Politische Studien in Amman, voraus.

Die Versammlung werde von Bürokraten, Stammesvertretern und Geschäftsleuten geprägt sein - genau wie in der letzten Wahlperiode. Deshalb hätten die meisten Jordanier auch keine großen Erwartungen an die vorgezogene Parlamentswahl am Dienstag (09.11.2010).

Einfluss auf die Gesetzgebung haben die Parlamentarier in Jordanien nur sehr begrenzt, und die Regierung wird ohnehin vom König eingesetzt.

Doch auch als Forum für eine kritische Auseinandersetzung über den Kurs der Regierenden funktioniert das Parlament nicht so recht. Denn die meisten Abgeordneten werden als Persönlichkeiten und nicht als Parteivertreter gewählt. Dementsprechend interessieren sie sich weniger für programmatische Debatten als dafür, die Interessen ihrer Klientel im heimischen Wahlkreis zu befriedigen.

Mangel an politisierten Abgeordneten

Für ein effizientes Parlament reiche das nicht aus, findet Nawaf al-Tell, Direktor des jordanischen Zentrums für Strategische Studien: "Was man daneben braucht, sind Abgeordnete, die auf nationaler Ebene aktiv sind, die stärker politisiert sind", sagt er und beruft sich dabei auf Umfrageergebnisse seines Instituts.

Hohe Zustimmung in der Bevölkerung würde demnach ein Parlament bekommen, das zu zwei Dritteln aus vor Ort verankerten, dienstleistungsorientierten Abgeordneten besteht und zu einem Drittel aus politischen.

Jordanische Wahlhelfer bei der Wahlvorbereitung; Foto: AP
Jordanische Wahlhelfer bei der Wahlvorbereitung: Vor fast einem Jahr ließ König Abdullah II. das alte Parlament auflösen; die darauf folgende Überarbeitung des Wahlrechts war jedoch zu zögerlich.

​​ "Das wäre eine ganz ähnliche Arbeitsteilung wie in Großbritannien, wo sich die Hinterbänkler um ihren Wahlkreis kümmern und die Spitzenleute von Opposition und Regierung um die Politik", erläutert Al-Tell.

Im Mittelpunkt der Kritik steht das Wahlrecht: Die Parlamentarier werden in Jordanien direkt gewählt, und jeder Bürger hat genau eine Stimme, gleichgültig ob in seinem Wahlkreis ein Sitz oder mehrere zu vergeben sind. Dieses Wahlsystem begünstigt Stammesvertreter und Einzelkandidaten, die meist den Regierungskurs mittragen.

Um die Parteien zu stärken und eine politische Streitkultur zu fördern, hatte ein Bündnis von 200 Gruppen aus der Zivilgesellschaft voriges Jahr Vorschläge für eine grundlegende Reform erarbeitet: Schrittweise solle ein Mischsystem mit Elementen einer Listenwahl eingeführt werden.

"In einem Listensystem muss der Kandidat seine Bewerbung in parteipolitischen Kategorien, als Programm ausdrücken, damit die Menschen ihn auf der Grundlage seines Programms wählen", begründet Hussein Abu Rumman vom Forschungszentrum Al-Urdun al-Dschadid diese Forderung. "Das kann die gesamte Atmosphäre des politischen Lebens verändern."

Reform-Vorschläge kaum berücksichtigt

Ins Zentrum der politischen Debatte rückten diese Vorschläge, als König Abdullah II. vor fast einem Jahr das alte Parlament auflöste. Kaum jemand weinte den Abgeordneten eine Träne nach, die überwiegend als inkompetent, passiv und von Eigeninteressen geleitet galten.

Tatsächlich hat die Regierung danach das Wahlrecht überarbeitet, doch die Forderungen des Reformbündnisses ließ sie weitgehend unter den Tisch fallen.

Parlamentsgebäude in Amman; Foto: dpa
Parlamentsgebäude in Amman: Eine einzige Programmpartei schafft regelmäßig den Einzug ins Parlament: die Islamische Aktionsfront, der politische Arm der Muslimbruderschaft.

​​ "Sie hat nur zehn bis fünfzehn Prozent davon übernommen - und zwar nicht die wichtigen, sondern nur kleine Änderungen", kritisiert Ali al-Dabbas vom Nationalen Menschenrechtszentrum, das die Reform-Initiative organisiert hatte. Deshalb entspreche auch das neue Wahlrecht weder den Erwartungen der Parteien noch denen der Wähler.

Eine einzige Programmpartei schaffte trotz der ungünstigen Rahmenbedingungen regelmäßig den Einzug ins Parlament: die Islamische Aktionsfront, der politische Arm der gemäßigt islamistischen Muslimbruderschaft.

Sie war bisher die wichtigste Opposition im Parlament, boykottiert jedoch ebenso wie einige linke Parteien die Abstimmung. Die Folge werde eine noch geringere Wahlbeteiligung als sonst sein, glauben einige Experten.

"Selbst wenn die Wahlen rechtmäßig und verfassungsgemäß ablaufen, haben sie mit dem Boykott der Islamisten und anderer Oppositionsgruppen ihren politischen Kern verloren", sagt etwa Politikberater Al-Rantawi vom Al-Kuds-Zentrum. Das werde nicht nur das Image des Parlaments, sondern auch das Vertrauen der Menschen in die politischen Institutionen beschädigen. "Es wird ein weiteres Hindernis auf dem Weg der Demokratisierung sein", warnt er.

Christoph Dreyer

© Deutsche Welle 2010

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

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