Alles beim Alten

Nie zuvor in der Geschichte Israels gab es derart bedeutungslose und unnötige Wahlen, meint der israelische Publizist und "Haaretz"-Redakteur Gideon Levy. Die meisten Parteien hielten es sogar nicht für nötig, ein eigenes Programm für die Parlamentswahlen aufzustellen. Und nur wenige Israelis verstehen, warum sie nach zwei Jahren schon wieder abstimmen sollen.

Von Gideon Levy

Niemand weiß, warum der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu vor ein paar Monaten einige seiner Kollegen in der Koalitionsregierung gefeuert und Neuwahlen ausgerufen hat. Bereits damals hatte es niemand verstanden, und auch heute versteht es niemand. Die wahren Motive für diesen rätselhaften Schritt bleiben weiterhin unklar.

Manche sagen, Netanjahu habe dies getan, nachdem er daran scheiterte, ein Gesetz zur Sanktionierung der privaten Zeitung "Israel Hayom" zu verhindern, die seinem größten Förderer gehört, dem amerikanischen Milliardär und Kasinomagnaten Sheldon Adelson. Niemand hat eine bessere Erklärung, aber die Idee, Israel führe Wahlen aufgrund einer unabhängigen Zeitung durch, ist gelinde ausgedrückt merkwürdig.

Aber die Abstimmung ist jetzt ein Fait accompli. In wenigen Tagen wird sie stattfinden, und der Parteienwahlkampf ist derzeit in vollem Gang. Jedem Fremden, der nach Israel kommt, wird es schwer fallen zu verstehen, worum es dabei geht, und noch schwerer, es zu glauben. Die Frage, was mit dem Geld für die recycleten Flaschen passiert ist, die Sara Netanjahu, die Frau des Ministerpräsidenten, im Amtssitz gesammelt hat und deren Erlös sie unrechtmäßig in die eigene Tasche gewirtschaftet hat, ist bei dieser Kampagne ein größeres Thema als die fortwährende Besatzung, die Suche nach alternativen Lösungen im Konflikt mit den Palästinensern oder sogar der Krieg in Gaza vom vergangenen Sommer.

Vor einem halben Jahr hat Israel erneut eine blutige Militäroperation gegen Gaza durchgeführt. Über 2.000 Palästinenser wurden dabei getötet, 150.000 sind immer noch obdachlos. Und strategisch betrachtet hat Israel nichts damit erreicht. Im Gegenteil: Die Militäroperation hat das Land neun Milliarden Schekel gekostet, und der Schaden für die Wirtschaft wird auf zehn bis zwölf Milliarden Schekel geschätzt.

Wenn der Wiederaufbau in Gaza, der noch kaum richtig begonnen hat, im bisherigen Tempo weitergeht, wird er laut Oxfam wohl noch hundert Jahre dauern. Doch über die Kosten dieses unnötigen Krieges wird nicht debattiert, ebenso wenig wie über die Kriegsverbrechen und den Preis, den Israel eines Tages für seine Taten zahlen muss. Auch wird nicht darüber gesprochen, wie man den nächsten Gaza-Krieg, der vermutlich nicht in weiter Ferne sein dürfte, verhindern kann.

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu und seine Frau Sara, Jerusalem, Dezember 2014 Foto: Imago/David Vaaknin
Laut Gideon Levy nehmen das Privatleben Netanyahus und dessen Frau Sara einen größeren Raum bei seiner Wahlkampagne ein, als Themen wie die fortwährende Besatzung, die Suche nach alternativen Lösungen im Konflikt mit den Palästinensern oder sogar der Krieg in Gaza vom vergangenen Sommer.

Die verdrängte Besatzung

Aber dass der traumatische Krieg in Israel nicht auf der politischen Agenda steht, sollte niemanden wirklich überraschen. Der israelische Diskurs schließt viele große und schwierige Themen aus – und dies nicht nur, wenn Wahlen bevorstehen. Ein Staat ohne exakte und anerkannte Grenzen, der sich um einige seiner großen Zukunftsthemen nie wirklich gekümmert hat. Eine Gesellschaft, die immer noch nicht weiß, wohin sie steuert und wie sie zukünftig gestaltet sein wird, die weiterhin in Verleugnung lebt und ihre Kernprobleme überwiegend ignoriert.

Nach wie vor schreckt man vor wichtigen Fragen zurück – wie jene über die zukünftigen Grenzen Israels im Fall einer Einigung mit den Palästinensern, über eine Zweistaaten- oder eine Einstaatenlösung, dem Verhältnis zwischen Staat und Religion oder der Zukunft der palästinensischen Minderheit in Israel. All diese und viele andere Themen werden im Rahmen dieser Wahlkampagne kaum diskutiert.

Im Wesentlichen fokussiert die Debatte auf die Persönlichkeit und das Verhalten Benjamin Netanjahus, auf sein Privatleben, und auf einige wenige wirtschaftliche und soziale Fragen, darunter die Immobilienpreise und die allgemeinen Lebenshaltungskosten. Diese Themen werden so dargestellt, als seien sie völlig abgekoppelt von den eigentlichen Problemen des Landes, wie dem monströsen israelischen Militärhaushalt, den endlosen Subventionen für das Siedlungsprojekt und dem zunehmenden Preis, den Israel aufgrund von Boykott, Sanktion und diplomatischer Isolation im Ausland dafür bezahlt, dass es die Besatzung aufrecht erhält. Anders ausgedrückt: Auch wenn in dieser Wahlkampagne einige wirtschaftliche und soziale Themen behandelt werden, geschieht dies ohne jeden übergeordneten Kontext, wodurch der gesamte Diskurs künstlich und falsch wird.

Es ist so, als stünde ein riesiger Elefant im Raum, und niemand spricht über ihn. Jeder tut so, als sei er nicht da. Der Elefant steht natürlich für die Besatzung, ein Schlüsselfaktor für fast alle Aspekte des israelischen Lebens. Aber die meisten Israelis sind der Ansicht, wenn man über diesen Elefant nicht redet, existiert er folglich auch nicht. Dieses unglaubliche Phänomen einer Gesellschaft, die in einer derartigen Verleugnung lebt, ist das Ergebnis von Jahren der systematischen Verdrängung. Diese geht hauptsächlich auf die israelischen Medien zurück, die es geschafft haben, diese Themen aus dem Bewusstsein der meisten Israelis zu verbannen.

Isaac Herzog (rechts) undTzipi Livni von der Labor Party. Foto: EPA/Jim Hollander
Das zionistische Lager unter Isaac Herzog und Tzipi Livni hat keinen Plan inpunkto Beendigung der israelischen Besatzung des Westjordanlands und Gazas vorgelegt, sondern lediglich angekündigt, die Verhandlungen fortführen zu wollen – und damit das, was man wohl als längsten Friedensprozess der Geschichte bezeichnen kann.

Festhalten am Status Quo

Wenige Tage vor den Wahlen am 17. März ist das Ergebnis noch ziemlich unklar. Likud unter Netanjahu und das Mitte-links-Bündnis "Zionistische Union" unter Isaac Herzog und Tzipi Livni liegen in den Umfragen fast gleichauf. Keiner von beiden wird eine deutliche Mehrheit erringen, was bedeutet, dass der Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten, wer auch immer es sein mag, eine Mehrheitskoalition mit vielen mittelgroßen und kleinen Parteien bilden muss. Dies ist eine Garantie für Instabilität, wirft aber vor allem die Frage auf, ob sich die Positionen der Hauptkandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten inpunkto Beendigung der israelischen Besatzung des Westjordanlands und Gazas überhaupt klar unterscheiden.

Herzog und Livni haben hierzu keinen einzigen mutigen Plan vorgelegt, sondern lediglich angekündigt, die Verhandlungen fortführen zu wollen – und damit das, was man wohl als längsten Friedensprozess der Geschichte bezeichnen kann. Herzog sagt, er müsse noch weitere fünf Jahre mit den Palästinensern sprechen, was gleichbedeutend damit ist, dass er, genau wie Netanjahu, nicht wirklich beabsichtigt, bedeutsame Schritte zu unternehmen.

Der größte Teil der Welt wartet auf eine Absetzung Netanjahus und würde sich freuen, wenn Herzog Ministerpräsident wird. Doch für diejenigen, die im Nahen Osten wirklich Gerechtigkeit sehen wollen, wird dies wird nicht notwendigerweise eine positive Entwicklung sein.

So wie es gegenwärtig aussieht, besteht die Hauptabsicht Israels darin, den Status Quo beizubehalten – ganz unabhängig davon, ob nach der Wahl Netanjahu oder Herzog regieren wird. Und dieser Status Quo bedeutet, die brutale Herrschaft eines Volkes durch das andere fortzuführen, ohne sie wirklich beenden zu wollen – so wie es bereits seit fast 50 Jahren geschieht. In ein paar Tagen wird der zwanzigste Knesset gewählt. Einige Wochen später wird eine neue Regierung gebildet, doch aus Israel wird man keine neue Botschaft vernehmen.

Gideon Levy

© Qantara.de 2015

Übersetzt aus dem Englischen von Harald Eckhoff

Gideon Levy ist Kolumnist und Redakteur der liberalen israelischen Tageszeitung "Haaretz". Zuletzt erschien sein Buch "The Punishment of Gaza" bei Verso Books.