Abgewendetes Debakel

Den arabischen Parteien gelang es buchstäblich erst im letzten Moment, viele unzufriedene arabische Israelis doch noch zu den Wahlurnen zu bewegen. Der befürchtete Bruch zwischen arabischen und jüdischen Israelis blieb damit aus, wie Gil Yaron berichtet.

Ahmed Tibi von der UAL (rechts) gemeinsam mit Mohammad Barakeh; Foto: AP
Aufatmen bei den arabischen Parteien: Ursprünglich hatten Meinungsumfragen Ahmad Tibis' UAL sowie der "Hadasch" von Mohammad Barakeh ein schlechtes Abschneiden vorausgesagt.

​​ Noch in den Mittagsstunden des Wahltages herrschte bei den arabischen Parteien Israels Panikstimmung. Die Wahlbeteiligung in den arabischen Dörfern in Nordisrael lag bei lediglich zehn Prozent, um rund 20 Prozent niedriger als bei jüdischen Wählern.

"Jeder, der nicht wählt, gibt de facto seine Stimme für Liebermann ab", versuchte Mahamid Wael, Sekretär des islamischen Ausschusses der "Vereinigten Arabischen Liste" (UAL), seine Klientel vor einem Wahlsieg der ultra-nationalistischen Partei des moldawischen Einwanderers Avigdor Liebermann zu warnen. Liebermann hatte eine araberfeindliche Wahlkampagne gefahren.

Drohendes politisches "Aus"

Den arabischen Parteien Israels drohte aus gleich mehreren Richtungen das Aus. Der Krieg im Gazastreifen hatte allen Kandidaten nur wenig Zeit für den Wahlkampf gelassen. Viele ihrer Wahlkampfthemen waren durch den Krieg in den Hintergrund gedrängt worden. Stürmischer Regen senkte die Wahlbeteiligung.

Die Enttäuschung über die großen zionistischen Parteien, die aus Sicht arabischer Israelis zwei unnötige Kriege in Gaza und im Libanon vom Zaun gebrochen hatten, entfremdeten viele arabische Wähler dem politischen System. Hinzu kam ein Boykottaufruf eines Teils der islamischen Bewegung, die dem Staat Israel auf diese Weise die Anerkennung der ethnischen Minderheit entziehen will.

So versuchten die arabischen Parteien dem verheerenden Trend mit aller Kraft entgegenzuwirken. Lastwagen mit Lautsprechern fuhren durch die Dörfer und forderten die Bürger auf, ihre demokratische Pflicht zu tun, Freiwillige karrten hunderte Wähler zu den Urnen.

Die Panik erzielte vor einem entscheidenden Wahlsieg Liebermanns ihre Wirkung. Am Tag

Avigdor Lieberman; Foto: AP
Die Furcht vor dem Machtzuwachs des Ultranationalisten Avigdor Lieberman und seiner "Beitenu-Partei" veranlasste viele israelische Araber, doch zu den Wahlurnen zu gehen.

​​nach den Wahlen konnten die Politiker erleichtert aufatmen. Die Wahlbeteiligung lag mit 54 Prozent zwar zwei Prozentpunkte niedriger als bei den letzten Wahlen, die befürchtete Katastrophe blieb aber aus.

Die arabischen Parteien, denen Meinungsumfragen bereits ein Ende prophezeit hatten, errangen elf Mandate. Die Kommunistische Partei steigerte sich gar auf vier Sitze in der Knesset.

"Die Araber sind den Wahlen nicht ferngeblieben, sondern haben ihre Stimme deutlich hörbar gemacht", sagte Hisham Abu Amar, der für die kommunistische Partei den Wahlstab in Tel Aviv leitete. "Wenn man die Schwierigkeiten bedenkt, denen wir uns gegenüber sahen, stellt uns das Ergebnis sehr zufrieden", fasst Wael zusammen.

Tiefes Misstrauen

Der befürchtete Bruch zwischen arabischen und jüdischen Israelis blieb damit aus. Zwar sitzt das Misstrauen nach den Kriegen in Gaza und Libanon, und gewaltsamen Ausschreitungen in Akko im vergangenen Herbst sehr tief.

Gleichzeitig brachte Wael jedoch sein grundsätzliches Vertrauen in Israels politisches System zum Ausdruck: "Wir sind ein Teil dieses Landes, und ein Teil des Systems. Die Wahlen sind der beste Weg für uns, unsere Interessen als Minderheit in diesem Land zu vertreten."

Wahlplakate Netanyahu und Liwni; Foto: AP
Zwar sieht sich Liwni als Wahlsiegerin, weil ihre "Kadima"-Partei mit 28 von 120 Mandaten knapp stärkste Fraktion wurde. Doch wegen des starken Rechtsrucks in der Knesset erwartet sie eine politische Zitterpartie.

​​ Einem Sitz am Regierungstisch sind die arabischen Parteien allerdings um keinen Deut näher gekommen. Den Großen gilt ein Bündnis mit den als "nicht zionistisch" bezeichneten arabischen Parteien weiterhin als Tabu. In den Verhandlungen um die Bildung einer Koalition wird man sie außen vor lassen.

Das Wahlergebnis verwirrte die arabischen Politiker genau so wie die jüdische Mehrheit. Der Ausgang war ein neues Patt zwischen Rechts und Links. Die "Kadima"-Partei der pragmatischen Außenministerin Tzippi Liwni wurde mit 28 der insgesamt 120 Knessetsitze zwar zur größten Fraktion in der Knesset.

Der von Hardliner Benjamin Netanjahu geführte rechte Block konnte aber gleichzeitig mit insgesamt 65 Mandaten einen erheblichen Stimmzuwachs für sich verbuchen.

Zähes Ringen um Regierungsbildung

Noch in der Nacht hatten Liwni und Netanjahu den eigenen Wahlsieg verkündet und die anderen Parteien dazu aufgefordert, sich unter ihrer Führung einer Koalition anzuschließen.

Weder Liwni noch Netanjahu machten Anzeichen, einlenken zu wollen. Nach einer langen Wahlnacht entsandten sie bereits am Tag darauf ihre Verhandlungsteams an die wichtigsten Parteien, die die zwei Prozent Hürde überwunden hatten.

Liwni und Netanjahu begannen sofort, um die 15 Mandate von "Israel Beiteinu", der Partei Liebermanns zu buhlen, die zu den größten Wahlgewinnern gehört.

Der hatte sich in seiner Siegesrede in der Wahlnacht niemandem verpflichtet, sondern hielt sich alle Optionen offen. Ohne ihn ist jede Regierungsbildung scheinbar unmöglich geworden, so ist er das neue Zünglein an der Waage, das letztlich entscheiden wird, wer Israels Premier wird.

Liebermanns Agenda, die von arabischen Politikern als "rassistisch" und "faschistisch" verurteilt wird, ist eine sonderbare Mischung rechter und linker Parteiprogramme.

Gemeinsamer politischer Nenner

Auch wenn er ideologisch eher in der Nähe Netanjahus beheimatet ist, hat er viele Berührungspunkte mit Liwnis "Kadima"-Partei. So vertritt er, im Gegensatz zum "Likud" und dessen rechten Verbündeten, die Idee einer Zwei-Staaten-Lösung.

Anders als alle anderen Parteien will Liebermann aber auch die arabischen Bürger

Siedlungsbau im Westjordanland; Foto: AP
Die Mehrheitsverhältnisse in der künftigen Knesset sprechen nicht für territoriale Zugeständnisse oder zumindest einen Stopp des Siedlungsbaus im Westjordanland. Daran könnte auch Liwni nichts ändern, sollte sie den Auftrag zur Regierungsbildung erhalten.

​​Israels ausbürgern und sie und ihre Städte dem neuen Palästinenserstaat zuschanzen. Im Gegenzug will er die israelischen Siedlungen im Westjordanland annektieren.

Innenpolitisch deckt sich Liebermanns Programm mit dem überwiegenden Teil der israelischen Linksparteien. Als Vertreter der russischen Einwanderer, von denen viele vom religiösen Establishment nicht als Juden anerkannt werden und deswegen in Israel nicht heiraten können, verlangt Liebermann die Einrichtung von Zivilehen.

Diese Forderung ist den religiösen Koalitionspartnern Netanjahus ein Gräuel, Liwnis säkulare Anhänger sähen dies allerdings als Gewinn. Die Vertreter des linken Spektrums, darunter der Vorsitzende der Arbeiterpartei Ehud Barak und Liwni, forderten noch am Abend der Wahl eine Wahlreform, um das politische System Israels zu stabilisieren.

In den vergangenen 15 Jahren wurde jede Amtszeit der Regierungen vorzeitig beendet. Solch eine Wahlreform ist ein zentraler Punkt in Liebermanns Wahlplattform.

So gibt es zwischen Liebermann und Liwni mindestens ebenso viele Berührungspunkte wie zwischen Liebermann und Netanjahu. Wer also letztlich von Staatspräsident Schimon Peres den Auftrag erhalten wird, Israels nächste Regierung zu bilden, bleibt weiter ungewiss.

Gil Yaron

© Qantara.de 2009

Dr. Gil Yaron ist deutsch-israelischer Journalist und Autor. Er arbeitet als Nahostkorrespondent für zahlreiche deutsche Printmedien sowie für die RUFA, den Radioservice der dpa.

Qantara.de

Interview mit Uri Avnery
"Israel fehlt eine Führungspersönlichkeit"
Uri Avnery, Publizist und Gründer der israelischen Friedensbewegung "Gush Shalom", beklagt das Fehlen einer starken Führungspersönlichkeit im heutigen Israel, die in der Lage wäre, ein Friedensabkommen mit Syrien und den Palästinensern durchzusetzen. Lina Hoffmann hat sich mit ihm unterhalten.

Tom Segev
Ein hundertjähriger Waffenstillstand unter Feinden
Auf einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin erklärte jüngst der israelische Historiker und Journalist Tom Segev, dass die Mehrheit der israelischen Bevölkerung viel pragmatischer im Umgang mit der Hamas sei als ihre derzeitige Staatsführung. Von Ariana Mirza

Dossier
Israelisch-palästinensischer Dialog
Jenseits der alltäglichen Gewalt im Nahostkonflikt gibt es zahlreiche zivilgesellschaftliche Akteure und Initiativen, die sich für einen umfassenden Frieden und eine Zweistaatenlösung in der Region einsetzen. Einige stellen wir in diesem Dossier vor.