Eisbein in Alanya

Ob alt, homosexuell, behindert oder dick – die Biografien türkischer und deutscher Menschen in Ömer Erzerens Buch "Eisbein in Alanya" zeigen eines: Sie sind ganz normale Menschen, und als solche ein Gewinn für die Gesellschaft. Petra Tabeling berichtet.

Ömer Erzeren; Foto: Petra Tabeling
Ömer Erzeren

​​Anderssein ist nicht nur eine Lebenserfahrung, sondern auch ein Zugewinn in einer zunehmend multikulturellen Gesellschaft. Rund zehn Prozent der Bevölkerung in Deutschland sind Menschen mit ausländischer Herkunft, doch ein Garant für eine Multikulti-Gesellschaft ist das nicht immer, wie die politischen Debatten der letzten Zeit gezeigt haben.

Viele Kulturen leben nicht miteinander, sondern eher nebeneinander her. Und so werden anders aussehende Menschen, eine fremde Religion oder Herkunft in Politik, Medien und Gesellschaft leider häufig stereotyp wahrgenommen - durch Symbole wie Kopftuch, Schlagworte wie Islam und Extremismus.

Doch vom türkischen Gemüsehändler oder der kurdischen Schneiderin um die Ecke wissen wir nach Jahren der Nachbarschaft eigentlich fast immer noch nichts, schon gar nicht von ihren Lebensgeschichten.

Ganz anders und doch so normal

Da erscheint Ömer Erzerens Buch "Eisbein in Alanya. Erfahrungen in der Vielfalt deutsch-türkischen Lebens" wie ein literarisches Ventil zur rechten Zeit. Durch die scheinbar simple Idee, verschiedene Lebensläufe unter den Aspekten "fremd", "behindert", "religiös", "kurdisch", "schwul", "lesbisch" oder "dick" wiederzugeben, hat Erzeren ein Meisterstück der biografischen Reportage geschaffen. Und diese machen deutlich, dass es "den Deutschen" oder "die Türkin" - schlichtweg "typische Lebensläufe" - gar nicht gibt.

Gerade ihre individuellen Lebenserfahrungen machen die Charaktere in "Eisbein in Alanya" so normal. Auch wenn sie von ihrer Umwelt nicht so wahrgenommen und daher ausgegrenzt werden. Zum Beispiel die 44jährige Nazmiye, die mit 18 Monaten an Kinderlähmung erkrankt und in ihrer türkischen Heimat, aufgrund ihrer Behinderung, immer wieder auf Ablehnung stößt.

Nachdem Nazmiye einen Kurden geheiratet hat, fragt sie sich: "Wenn heute jemand in der Türkei sagt, 'Ich möchte nicht, dass mein Kind einen Kurden heiratet', nennt man ihn einen Rassisten. Wie nennt man eigentlich jemanden, der sagt:'Ich möchte nicht, dass mein Kind einen Krüppel heiratet?'".

Der konvertierte deutsche Wächter

Der 31jährige Thomas arbeitet als Wachmann und wuchs in Guben auf. Wegen seiner Größe von den Mitschülern gehänselt, ist er schon als Kind ein Außenseiter. Als er vor vier Jahren nach Berlin-Kreuzberg kommt, bringt er viele Vorurteile über die dort lebenden Migranten mit. Doch der Wachmann, der bei einem Discountmarkt mit vorwiegend türkischer und muslimischer Kundschaft arbeitet, beginnt sich für den Islam zu interessieren und konvertiert schließlich.

Es sind Randzonen, in denen sich die Protagonisten in "Eisbein in Alanya" bewegen, schwul sein als Kurde, oder behindert auf dem Land aufgewachsen zu sein. Erzeren stellt 18 Lebensberichte von Deutschen und Türken vor, die unter die Haut gehen. Es geht um Menschen, die eher zur Randgruppe der Gesellschaft zählen, und die an so manchen Protagonisten in Fatih Akins Film "Gegen die Wand" erinnern. Ömer Erzeren hat ihre Lebensgeschichten mit viel Feinsinn und einer großen Gabe des Zuhörens eingefangen.

Integration durch Vielfalt von Lebensgeschichten

Als Journalist ist Ömer Erzeren vielen Menschen und deren Biografien begegnet, er ist sowohl in Berlin als auch in Istanbul zuhause. Die Charaktere aus dem Buch kennen zu lernen und sie nach ihrer Lebensgeschichte zu befragen, war gar nicht so schwierig, wie man bei der Lektüre von "Eisbein in Alanya" annehmen könnte. Durch einen großen Bekanntenkreis sei es sogar recht einfach gewesen, ihnen zu begegnen, so der Autor.

Erzerens sanftem Tonfall und dem eigenen Migrantenhintergrund ist es sicherlich zu verdanken, dass ihm diese Erzählungen so offen und so direkt anvertraut wurden und, bis auf wenige Änderungen, so ihren Weg in das Buch fanden.

Erzerens größte Motivation war es, die vorgefertigten Bilder, die sich Menschen von Anderen machen, zu durchbrechen. Mit seinem Buch macht er deutlich, dass es den Normalfall "deutsch" ebenso wenig gibt, wie den Normalfall "türkisch".

Erzeren interessiert vielmehr, wie ein Mensch damit umgeht, wenn er nicht nur von der Mehrheitsgesellschaft, sondern auch von der Minderheit, zu der er gehört, den Stempel der kollektiven Identität aufgedrückt bekommt.

In Deutschland und der Türkei zu Hause, beleuchtet Ömer Erzeren vorurteilsfrei den Umgang mit Minderheiten in beiden Gesellschaften, in denen der Journalist lebt.

Geboren 1958 in Ankara, absolvierte Erzeren seine Schulausbildung in Deutschland und der Türkei. Nach dem Studium der Sozialwissenschaften an der Universität Göttingen wurde er u. a. Istanbuler Korrespondent der taz. Seit 1998 lebt und arbeitet Erzeren als freier Journalist und Autor in Berlin und Istanbul.

"Letztlich hat jeder etwas sehr Ungewöhnliches zu erzählen", ist sich Erzeren sicher. Denn jeder Mensch hat multiple Identitäten, ihre Vielfalt ist die Wirklichkeit. Und wenn wir ihnen begegnen, wie in Form dieses Buches, dann verstehen wir, dass nichts normal ist.

Petra Tabeling

© Qantara.de 2005

Ömer Erzeren, Eisbein in Alanya; Cover: Körber- Stiftung

​​Ömer Erzeren: Eisbein in Alanya. Erfahrungen in der Vielfalt deutsch-türkischen Lebens. Edition Körber-Stiftung, 2004. 14 Euro

Homepage der Körber-Stiftung mit Informationen zu Ömer Erzeren und "Eisbein in Alanya"