Das Grauen vor der Stunde Null

Die schiitischen Milizen mit ihrer hohen Kampfmoral mögen zwar im Kampf gegen den "Islamischen Staat" ein effektives Instrument sein, die Dschihadisten im Irak zu bekämpfen. Doch wird dabei buchstäblich der IS-Teufel mit dem Beelzebub der schiitischen Milizen ausgetrieben, meint Karim El-Gawhary.

Von Karim El-Gawhary

Es ist die größte Bodentruppen-Offensive, die je gegen die Dschihadisten des Islamischen Staates (IS) unternommen wurde. Am vergangenen Sonntag (01.03.2015) verkündete der irakische Premier Haider al-Abadi "die Stunde Null" für die Offensive zur Rückeroberung der irakischen Stadt Tikrit, dem symbolisch wichtigen Geburtsort Saddam Husseins. Dann begannen, laut irakischen Fernsehen, 30.000 Soldaten und Kämpfer, unterstützt von Artillerie und Angriffen der irakischen Luftwaffe, an mehreren Fronten gegen die Stadt vorzurücken.

Ist diese neue Offensive erfolgreich, wäre damit nicht nur die irakische Provinz Saladin aus den Händen des IS befreit. Die Rückeroberung Tikrits würde auch den Weg vom Süden in die Stadt Mossul ebnen, da durch Tikrit die Schnellstraße zwischen Bagdad und Mosul verläuft. Doch es wird erwartet, dass die Kämpfe lange und heftig sein werden. Die IS-Kämpfer hatten monatelang Zeit, sich in der umkämpften Region zu verschanzen. Die gegenwärtige Offensive dürfte für sie kaum eine Überraschung darstellen. Die irakische Armee hatte zuvor bereits große Probleme, wesentlich kleinere Orte zurückzuerobern.

Die "Hasenfüße" aus den Reihen der regulären Armee

Die Offensive ist auch der erste große Testfall für die Kampfkraft der regulären irakischen Armee. Die Truppen hatten bisher vor allem den Ruf erworben, "Hasenfüße" zu sein, als sie nach jahrelangem Training seitens der US-Armee im letzten Sommer panisch in ganzen Divisionen vor den IS-Dschihadisten davongelaufen waren und das gesamte US-Waffenarsenal zurückgelassen hatten.

Schiitische Freiwillige beim Kampf gegen den IS vor Tikrit; Foto: Getty Images/AFP/Al-Rubaye
Schiitische Freiwillige beim Kampf gegen den IS vor Tikrit: Zwischen 3.000 bis 5.000 schiitische Milizionäre sollen während der Operation an der Seite der irakischen Armee kämpfen. Diese haben bei kleineren Offensiven, vor allem in der Provinz Diyala, in den letzten Monaten den Ruf erworben, in den von ihnen eroberten sunnitischen Orten gewütet zu haben.

Tikrit und seine Umgebung stellen sunnitisches Kernland im Irak dar. Viele der Einwohner hatten sich in den letzten Jahren von der von Schiiten kontrollierten Zentralregierung in Bagdad politisch und wirtschaftlich an den Rand gedrängt gefühlt. Dort bilden die militanten Islamisten eine Schnittmenge mit den alten Kadern der einstigen baathistischen Regierungspartei Saddam Husseins. Dies ist auch ein Grund dafür, warum die IS-Kämpfer im vergangenen Sommer ein leichtes Spiel hatten, Tikrit zu erobern.

Was auf den ersten Blick wie ein vielversprechender Schritt aussieht, die Dschihadisten des IS zurückzudrängen und deren Kalifat mit militärischer Macht geografisch zu verkleinern, birgt jedoch bereits die Saat für das nächste Desaster: Es existiert eine große Grauzone, wie sehr regulär und wie sehr schiitisch die irakischen Truppen sind. Auch Berichte, dass der Kommandeur der iranischen Al-Quds-Brigaden, Qassem Soleimani, die ganze irakische Operation als eine Art iranischer "Schattenstabschef" leitet, dürfte die Skepsis der Sunniten gegenüber dieser Offensive erhöhen.

Der zweifelhafte Ruf der schiitischen Milizen

Doch wirklich problematisch ist die ganz offene Teilnahme schiitischer Milizen an dieser Militäraktion. Die Zahlen schwanken, zwischen 3.000 bis 5.000 schiitische Milizionäre sollen während der Operation an der Seite der irakischen Armee kämpfen. Diese sollen in den letzten Monaten bei kleineren Offensiven in den von ihnen eroberten sunnitischen Orten, vor allem in der Provinz Diyala, gewütet zu haben. Tatsächlich sind willkürliche Morde und das Niederbrennen von Häusern seitens dieser schiitischen Milizen während der vergangenen Operationen von diversen Menschenrechtsorganisationen ausführlich dokumentiert worden.

Für die schiitischen Milizionäre ist jeder Sunnit, der nicht aus seinem Dorf vor der IS geflohen ist, ein potenzieller Kollaborateur. Hinzu kommt, dass der irakische Innenminister Mohammed Ghabban, der mit den nachrückenden Polizeitruppen für Sicherheit sorgen soll, eine Person mit ausgewiesener schiitischer Milizvergangenheit ist, der auch sunnitisches Blut an den Händen kleben hat.

Für die vorwiegend sunnitischen Bewohner von Tikrit und Umgebung heißt das vor allem: Entweder sie fliehen in anderes sunnitisches Gebiet, das vom IS kontrolliert wird – und das käme einer ethnischen Säuberung gleich –, oder sie bleiben in ihren Dörfern und müssen sich fragen, was wohl schlimmer ist: von den Schergen des IS terrorisiert oder von den schiitischen Milizen massakriert zu werden.

Die schiitischen Milizen mit ihrer hohen Kampfmoral mögen zwar ein effektives Instrument sein, die Dschihadisten im Irak zu bekämpfen. Doch wird dabei wohl buchstäblich der IS-Teufel mit dem Beelzebub der schiitischen Milizen ausgetrieben.

Karim El-Gawhary

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