Literatur hinterm Schleier

In der ägyptischen Literaturszene sind Romane vollverschleierter Schriftstellerinnen im Kommen – auch wenn Kritiker ihnen religiös-ideologische Färbungen und künstlerische Schwächen attestieren. Von Sameh Fayez

Von Sameh Fayez

Während Jasmin Hassan bei einer Veranstaltung im Zentrum Kairos Exemplare ihres Romans "Maria" signierte, entstand ein Foto, das kurz darauf auf Facebook die Runde machte und eine heftige Kontroverse zwischen Befürwortern und Gegnern eines für die ägyptische Literaturszene noch recht ungewohnten Phänomens lostrat, nämlich das der Niqab-tragenden, also vollverschleierten Schriftstellerinnen.

Bis 2011 war als einzige dieser Vertreterinnen lediglich Fadwa Hassan mit ihrem 2008 erschienenen Erstlingswerk "Fadwa" öffentlich bekannt geworden. Inzwischen ist die Zahl der "Niqab-Autorinnen" allerdings schon auf ein Dutzend angewachsen.

Von diesen sind allein in den vergangenen drei Jahren 26 Werke erschienen, von Romanen über Kurzgeschichten bis Lyrik – die meisten davon mit einer religiös-salafistischen Färbung. Die Titel sprechen für sich: "Die schöne Niqab-Trägerin", "Der Mann mit dem schwarzen Bart", "Mein Geliebter, der IS-Kämpfer", "Also sprach sie zu mir", "Hinterm Schleier".

Die Schriftstellerin Dua’ Abdurrahman hat allein fünf Romane veröffentlicht, zuletzt "Also sprach sie zu mir", welcher auf eine so große Resonanz gestoßen ist, dass dieser binnen eines einzigen Jahres insgesamt 26 Mal neu aufgelegt wurde.

Die Autorin wendet sich gegen das Dogma mancher Extremisten, wonach Literatur den Menschen angeblich keinen Nutzen brächte. Vielmehr, so Dua' Abdurrahman, "sind etliche der Religionsgelehrten aus meinem Bekanntenkreis gleichzeitig Literaten – darunter auch solche, die mit mir zusammen meinen jüngsten Roman lektoriert haben. Sie vertreten die Ansicht, dass jeder Lebensbereich seine nützlichen und weniger nützlichen Aspekte hat."

Literarische Erfahrungen in Internetzirkeln

Mona Salama hatte bereits vier Romane als E-Books veröffentlicht, bevor im Jahr 2015 ihr erster Roman in Printform erschien. Über ihre Erfahrungen sagt sie: "Dass ich Niqab-Trägerin bin, hat mir überhaupt keine Probleme bereitet. Weder am Anfang, noch später. Zuerst habe ich für die Literatur-Ecke eines Online-Forums für Frauen geschrieben, dann in Facebook-Gruppen für Literaturfreunde. Für meine Leser sollte doch eigentlich nichts weiter eine Rolle spielen als das, was ich schreibe." Und weiter: "Die Praxis des Erzählens ist uns schon aus unserer Religion vertraut. Es ist also gar nicht so verwunderlich, dass wir Geschichten schreiben."

Auch Jasmin Hassan hat ihre Karriere in Internet-Literaturforen begonnen, will aber – anders als so manche ihrer vollverschleierten Kolleginnen – ihre Texte nicht den strengen Regeln der Scharia unterworfen wissen. "Der Niqab wird meist pauschal mit Verbot gleichgesetzt. Ich wollte demgegenüber meine Überzeugung auf die Probe stellen, dass es der Qualität einer Autorin keinen Abbruch tut, wenn sie vollverschleiert ist."

Buchcover "Maria" von Jasmin Hassan
Jasmin Hassan hat ihre Karriere in Internet-Literaturforen begonnen, will aber – anders als so manche ihrer vollverschleierten Kolleginnen – ihre Texte nicht den strengen Regeln der Scharia unterworfen wissen. "Der Niqab wird meist pauschal mit Verbot gleichgesetzt. Ich wollte demgegenüber meine Überzeugung auf die Probe stellen, dass es der Qualität einer Autorin keinen Abbruch tut, wenn sie vollverschleiert ist."

Im Falle von Shahanda Zayat war das Schreiben der Ausgangspunkt für eine publizistische Karriere. Sie gründete einen Verlag und brachte zwei Romane von Niqab-tragenden Autorinnen heraus, die auf der jüngsten Kairoer Buchmesse positive Verkaufszahlen erzielten.

Schon mit neun Jahren hatte sie ihre erste Geschichte ("Sie ist das Unbekannte") über ein junges Mädchen geschrieben, das in einer ultrakonservativen Gesellschaft lebt und davon träumt, Schriftstellerin zu werden. Dazu Shahanda Zayat: "Das Schreiben kam bei mir nicht aus dem Nichts, sondern war das natürliche Produkt meiner intensiven Lektüre der Werke von Mustafa Sadiq al-Rafi'i, Mustafa Mahmud, Anis Mansur und Abbas el-Akkad."

Bei der Entscheidung, ob ein Werk veröffentlicht werden soll, sei für sie nicht ausschlaggebend, ob dessen Autorin vollverschleiert ist. Um vor den Auswahlkomitees bestehen zu können, käme es auf das Talent an und nicht auf die Kleidung oder die religiöse und politische Ausrichtung.

Rebellion gegen Muslimbrüder

Für die Autorin und Literaturkritikerin Huwaida Saleh erklärt sich dieses Phänomen dadurch, dass die Muslimbrüder sich bei ihrem Regierungsantritt äußerst schwer damit getan hätten, aus ihrem Führungspersonal einen geeigneten Kulturminister zu rekrutieren. Und als schließlich Intellektuelle gegen die Muslimbrüder rebelliert und im Gebäude des Kulturministeriums einen Sitzstreik organisiert hätten, sei dies der Anfang ihres Sturzes gewesen.

Damals hätten sie erkannt, dass sie auch in den eigenen Reihen über hochkarätige Intellektuelle verfügen mussten. Von daher das Phänomen der "bärtigen Romanautoren" und der "vollverschleierten Romanautorinnen" und damit einhergehend die zunehmende Verbreitung von Romanen mit religiösem Anstrich. Im Vergleich zu den religiösen Predigten – ob in den Moscheen, im Fernsehen oder im Internet – habe sich der Roman mittlerweile als das effektivere Medium erwiesen.

Huwaida Saleh zufolge müsse man sich angesichts des grassierenden Phänomens der „Niqab-Autorinnen“ fragen, ob es nicht deren gutes Recht sei, zu schreiben und sich auszudrücken. Sie selbst gibt darauf folgende Antwort: "Nachdem ich eine ganze Reihe von Werken dieser 'Niqab-Autorinnen' unter ästhetischen Gesichtspunkten gelesen habe, musste ich feststellen: Auf der künstlerisch Ebene geben sie extrem wenig her."

Die Literaturkritikerin ist der Ansicht, dass man in ihnen die seit Jahrzehnten fest etablierten Merkmale der Literaturgattung Roman sowie deren Ästhetik vergeblich sucht – und zwar "sowohl die Elemente des klassischen Romans wie Handlung, Raum-Zeit-Relation und Figurenkonstellation, als auch die des nouveau roman, der sich durch sein fragmentarisches Erzählen, seinem spielerischen Umgang mit der Zeit und seinen ästhetischen Anleihen bei anderen Genres wie Lyrik, Film und bildender Kunst auszeichnet."

Inflationäre Literaturerzeugnisse

Zwar könnten andere Rezipienten geltend machen, dass diese Art von moralisierender Literatur, die das Einflechten von Anweisungen und Geboten zu ihrem Stilmittel erkoren hat, immer schon existiert habe, selbst zu Zeiten Nagib Mahfuz', einer "Ikone des arabischen Romans". Warum also sich aufregen?

Dem hält Huwaida Saleh entgegen: "Der Kontext ist ein ganz anderer. Damals erschienen solche Werke nur in sehr geringer Auflage. Heute machen es einem die neuen Medien leicht, jede Banalität in Umlauf zu bringen. Großspurig als Romane bezeichnete Texte können in dutzendfacher Auflage gedruckt werden. Für den Kritiker stellt sich angesichts dieses Phänomens die Frage nach dem künstlerischen Wert und dem ästhetischen Bewusstsein. Es ist keine vergebliche Liebesmüh, literaturkritische Maßstäbe an solche Texte anzulegen. Das muss man sogar, wenn man sich nicht mit einer Etablierung des Mittelmaßes abfinden will."

Hamdi Al-Nurg, Professor für Literaturkritik und Diskursanalyse an der Ägyptischen Kunstakademie, vertritt eine differenzierte Sichtweise: "Aus der Pluralität und Vielfalt des literarischen Diskurses lassen sich eine ganze Reihe von Aspekten herauslesen: die darin artikulierte Ideologie, deren Wirkung im Hinblick auf die Etablierung von Begriffen und Werten, die darin enthaltene Vision von der Essenz der Dinge, vom Wesen der Kunst. Mit diesen diskursimmanenten Aspekten hat sich eine unaufgeregte Literaturkritik auseinanderzusetzen. Damit meine ich, dass Diskurse mit ihrer Diversität, ihrer Perspektive und ihren Inhalten den Keim für große Ideen in sich tragen; Ideen, die ein Realisierungspotenzial haben, die zu Debatten anregen und die Wirkung entfalten können; und auch solche, die eine Bürde darstellen. Es geht also nicht darum, die Bedeutung von Ideen zu leugnen; aber ebenso wenig sollten wir Diskurse in starre Formen pressen und künstlich konservieren."

Vor diesem Hintergrund verweist Al-Nurg darauf, dass wir es in diesem Zusammenhang mit Diskursen zu tun hätten, die aus einer als radikal-islamistisch definierten Identität gespeist würden. Wobei eine solche Definition sich auf äußerlich-formale sowie inhaltsbezogene, aber auch auf intertextuell ausgerichtete Klassifikationskriterien stütze. Er betont, es komme darauf an, was gesagt werde, nicht wer etwas sage. Solange der Diskurs – welcher Art auch immer – sich aus der gesellschaftlichen Dynamik heraus entwickele, sei die Frage seiner Akzeptanz nicht Sache jener Gelehrtenkaste, als die sich manche Kritiker oder sogar Künstler aufspielten, welche nachts von ihren virtuellen Kämmerlein aus Diskurse in die Welt setzten, um sie dann am nächsten Morgen wieder zu verwerfen.

Al-Nurg kommt zu folgendem Fazit: "Wir sind immer noch in denselben Denkmustern gefangen wie andere vor uns und tun uns schwer damit, dem Phänomen 'Niqab-Literatur' gerecht zu werden. Wie kommt es, dass ein Genre wie etwa das des sogenannten ‚Erotischen Romans‘ auf lebhaftes Interesse stößt, während jene ernsthafte, sich modischen Trends verweigernde Form weiblichen Schreibens von der Literaturwissenschaft ignoriert wird?"

Sameh Fayez

© Qantara.de 2017

Übersetzt aus dem Arabischen von Rafael Sanchez