Moderne Frauen tragen Kopftuch

Für viele moderne Muslime ist das Kopftuch kein Stigma, sondern ein positives Bekenntnis zur religiösen Identität, meint die türkische Soziologin Nilüfer Göle.

Nicht-Muslime sehen oft im Tragen des Kopftuchs ein Zeichen der Erniedrigung und Unterdrückung muslimischer Frauen. Doch statt eines Stigmas ist das Kopftuch für Muslime verstärkt zum Zeichen eines positiven Bekenntnisses zu ihrer religiösen Identität geworden, meint die türkische Soziologin Nilüfer Göle.

Der Grund, weshalb der Islam in der Sicht des Westens als eine "ganz andere" Religion erscheint, beruht darin, dass der Westen eine systematische Entinstitutionalisierung der Religion erlebt hat.

Die Religion ist natürlich nicht aus dem modernen westlichen Leben verschwunden, vielmehr ist es der Anspruch, den religiöse Institutionen auf das Verhalten des Einzelnen erheben. Religion ist in der modernen Welt eine viel persönlichere und spirituellere Erfahrung als je zuvor.

Doch auch innerhalb des Islam findet schon ein Prozess der Entinstitutionalisierung religiöser Erfahrungen statt. Wie im Westen wird die religiöse Erfahrung im Islam persönlicher.

Ein Ergebnis ist die Deutung religiöser Texte durch den einzelnen Muslim, auch seitens der politischen Kämpfer, der Intellektuellen und Frauen. Ein anderes ist die Vergröberung der religiösen Kenntnisse, wobei die Lehre des Korans missbraucht und aus dem Zusammenhang gerissen wird, um politische Ziele zu unterstützen.

Wer entscheidet jetzt, was im Islam erlaubt ist und was verboten? Wer besitzt die Autorität, religiöse Texte zu interpretieren? Wer kann eine Fatwa ausrufen oder einen Dshihad erklären? Heute bieten Aktivismus und Terrorismus eine neue Quelle der Legitimität. Somit entscheiden Laien, was Islam bedeutet oder nicht bedeutet, ohne die Autorität religiöser Schulen und einer Spezialausbildung.

Die Entinstitutionalisierung des Islams eint ungleiche Partner

Tatsächlich wird der Islam heute in erster Linie von politischen Akteuren und kulturellen Bewegungen und nicht von religiösen Institutionen gedeutet. Diese Entinstitutionalisierung ermöglichte dem Islam, statt weiterhin ein lokales und nationales gesellschaftliches Band zu sein, eine imaginäre Verbindung zwischen allen Moslems überall dort zu schmieden, wo sie sich unterdrückt und bedrängt fühlen.

Daher kann der Islamismus Menschen, die früher tief zerstritten waren, vereinen: spirituelle Sufi und gesetzestreue Sharia-Moslems; Schiiten und Sunniten; das konservative Saudi-Arabien und den revolutionären Iran.

Als die Gläubigen die ländlichen Gebiete verließen und in die Städte, auch in die des Westens zogen, ist auch der Islam in Bewegung geraten.
Natürlich erleben Muslime infolge der Wanderung ein Gefühl der Distanz von oder gar einen Bruch mit ihrer gesellschaftlichen Herkunft. Daher sind ihre religiösen Erfahrungen von einer neuen Art und aller theologischen, gemeindlichen und staatlichen Institutionen beraubt.

Die religiöse Erfahrung wird stattdessen zu einer Form der Sinnstiftung in der Fremde. Nicht die Distanzierung vom modernen Leben, sondern die Annäherung an dieses löst die Rückbesinnung auf die religiöse Identität aus. Tatsächlich entsteht der Radikalismus meistens in Gruppen, die, weil sie Mobilität und Vertreibung erfahren haben, mit den weltlichen Formen des politischen Denkens und städtischen Lebens im Westen vertraut sind. Durch die ungewohnte Umgebung verunsichert, finden sie im Islam ihren Rückhalt.

Doch damit sich dieser Rückhalt bewähren kann, muss sich der Islam angesichts der Modernität von seiner traditionell unterwürfigen, passiven und sanftmütigen Haltung befreien. Indem sie einen Schleier oder einen Bart tragen, das Recht auf Räume für ihr Gebet am Arbeitsplatz oder in der Schule einfordern und besondere Nahrungsmittel beanspruchen, geben sich Muslime offen als solche zu erkennen.

Kopftuch als Zeichen islamischer Identität

Nicht-Muslime sehen üblicherweise im Tragen des Kopftuchs ein Zeichen der Erniedrigung und Unterdrückung der muslimischen Frauen. Statt eines Stigmas ist das Kopftuch für Moslems nun zum Zeichen des positiven Bekenntnisses zu ihrer islamischen Identität geworden.

Mädchen, die in französischen und deutschen Schulen das Kopftuch tragen, stehen in vieler Hinsicht (etwa in Bezug auf die Jugendkultur, ihr Modebewusstseins und ihre Sprache) ihren Mitschülern näher als ihren an die Wohnung gefesselten, ungebildeten Müttern. Indem sie in Europa das Kopftuch in der Öffentlichkeit tragen, verändern diese Mädchen unbeabsichtigt das Symbol und die Rolle der muslimischen Frauen.

Diese Tendenz reicht weit über das Kopftuch hinaus. Alle Moslems im Westen besitzen ein doppeltes Zugehörigkeitsempfinden, ein doppeltes kulturelles Kapital. Sie definieren sich durch ihre Religiosität, aber sie haben auch ein umfassendes, weltliches Wissen erworben.

So können sie sich auch relativ frei zwischen verschiedenen Aktivitäten und Räumen bewegen - zwischen dem Zuhause, der Schule, der Jugendorganisation und den städtischen Freizeitangeboten.

Was wir heute erleben, ist die Umwandlung der islamischen Identität in eine islamistische. Das religiöse Selbst des einzelnen Muslims verlagert sich vom privaten in den öffentlichen Bereich.

Die Frage, die sich einem jeden stellt, ist die, ob der Suche nach Identität mit Kopftüchern und einer öffentlichen Akzeptanz der religiösen Praktiken des Islam entsprochen werden kann oder ob das positive Bekenntnis zum Islam eine grundsätzlichere Ablehnung der Modernität verlangt.

Nilüfer Göle, © Project Syndicate/Institut für die Wissenschaften vom Menschen, 2003.

Die Autorin ist Studiendirektor an der "Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales" in Paris.