Dialog auf Augenhöhe

Der israelische Regisseur und Theaterpädagoge Uri Shani beleuchtet in seinem Buch "Nemashim" die Höhen und Tiefen des gleichnamigen interkulturellen Theater- und Kommuneprojekts aus Israel. Julie Schwannecke hat das Buch gelesen.

Von Julie Schwannecke

"Nemashim" ist ein 2002 initiiertes hebräisch-arabisches Theater- und Kommuneprojekt aus Israel, das bis zu sechs jungen Arabern und Hebräern die Gelegenheit gibt, ein Jahr lang miteinander in einer Kommune zu leben und Theater zu machen. In den Workshops, auf der Bühne und innerhalb der Kommune lernen die Jugendlichen, sich mit den Vorurteilen und Stereotypen ihrer Gesellschaften auseinanderzusetzen und auf der Bühne zu thematisieren.

Die Idee zu dem ambitionierten Projekt entstand vor dem Hintergrund des sich verschärfenden israelisch-palästinensischen Konflikts und des zunehmenden Rassismus auf beiden Seiten. Mit Hilfe des Theaterspiels wollte Uri Shani, Gründer des Projekts und langjähriger Theaterregisseur sowie Theaterpädagoge, eine andere Lebensrealität aufzeigen: Sein Ziel war es, arabische und jüdische Jugendliche zusammenzubringen, da sie aufgrund der unterschiedlichen Bildungssysteme in Israel und Palästina in der Regel keine Möglichkeit haben, sich wirklich gegenseitig kennenzulernen und auszutauschen.

Außerdem wollte der Autor verschiedenen kulturellen Identitäten auf den Grund gehen, um zu erfahren, ob ein Dialog zwischen jungen Israelis und Palästinensern überhaupt möglich erscheint – und unter welchen Voraussetzungen eine interkulturelle Zusammenarbeit gelingen kann. In diesem Zusammenhang verwendet Uri Shani bewusst die Bezeichnung "Araber" und "Hebräer", und nicht etwa "Palästinenser" und "Juden", da er damit zum Ausdruck bringen möchte, dass dabei keine religiöse Identifikation der beiden Gruppen im Mittelpunkt steht.

Das Projekt stützt sich gleichzeitig auf die israelische Tradition, dass junge Leute nach ihrem Abitur etwas für ihre Gesellschaft tun, z.B. in Form von Gemeinde- oder Sozialarbeit. Der arabische Teil der israelischen Bevölkerung kennt diese Praxis nicht, im Vordergrund steht zumeist, dass die Jugendlichen so schnell wie möglich die Universitäten besuchten oder für die eigene Familie Geld verdienten. Aus diesem Grund sei es auch immer wieder schwierig gewesen, junge arabische Teilnehmer für "Nemashim" zu gewinnen, erklärt Shani.

Mit Theaterarbeit die Gesellschaft verändern

Buchcover "Nemashim: Ein arabisch-hebräisches Theaterprojekt" im AphorismA-Verlag Berlin
Frieden und Verständigung durch Eigeninitiative: Uri Shani glaubt, dass wirkliche Veränderungen und Konfliktlösungen nicht von israelischen und palästinensischen Staatsoberhäuptern erzielt werden können, sondern durch eine aktive Zivilgesellschaft.

Der Autor ist der Ansicht, dass es durchaus möglich ist, mit Hilfe des Theaters gesellschaftliche und politische Missstände zu enthüllen, gemeinsam zu diskutieren, und zusammen die Gesellschaft zu verändern. Theater hat daher in seinen Augen nicht nur eine kommunikative Funktion, sondern auch eine soziale und gesellschaftliche: das Kultivieren von Kommunikation. Schon allein dadurch könne sich das Bühnenspiel positiv auf Konfliktsituationen auswirken. Vor allem erfülle Theater die gesellschaftliche Aufgabe, das Publikum zum Denken und Austauschen zu animieren, und um Fragen zu stellen – und nicht um Antworten zu geben.

Seit mehr als zehn Jahren praktiziert er zusammen mit Jugendlichen das "Theater der Unterdrückten", eine vom brasilianischen Theaterautor Augusto Boal ins Leben gerufene Theaterform, die durch die spielerische, ästhetische und theatralische Begegnung von Menschen eine Lösung sozialer Probleme und Veränderungen auf politischer Ebene erwirken möchte. Dies wird dadurch erreicht, indem der Zuschauer in die Theaterhandlung eingebunden wird, so dass die Trennung zwischen Bühne und Publikum aufgehoben wird.

Das "Theater der Unterdrückten" will aus dem passiven einen aktiven Zuschauer machen, der seine eigene Meinung einbringt und den Fortgang des Theaterstücks mitbestimmt. Es will den Teilnehmer dazu animieren, die Unterdrückungsspielregeln der Gesellschaft sowie eigene Verhaltensweisen in Frage zu stellen, um sich aus vorgegebenen Rollen und Alltagszwängen zu befreien. Wenn ihm das im Theater gelinge, so sei er auch imstande, sich in alltäglichen Situationen entsprechend couragiert zu verhalten, meint Uri Shani.

Manchmal geht es in den Bühnenstücken um einen muslimischen Vater, der nicht möchte, dass seine Tochter ihren Freund, einen Christen heiratet, oder um ein jüdisches Paar, das ohne religiöse Zeremonie heiraten will. Oder aber es geht um die Vertreibung palästinensischer Familien aus ihren Häusern, die mit jungen israelischen Familien neu bezogen werden.

Neben alltäglichen Konfliktsituationen bringen die Jugendlichen bisher noch ungelöste und tabuisierte Fragen auf die Bühne, wie etwa: Wieso sprechen viele Juden auch nach 50 Jahren Koexistenz noch kein Arabisch?

Uri Shani glaubt, dass wirkliche gesellschaftliche und politische Veränderungen sowie Konfliktlösungen nicht von israelischen und palästinensischen Staatsoberhäuptern erzielt werden können, sondern dass es dazu einer aktiven Zivilgesellschaft bedarf.

Als er sein ehrgeiziges Projekt im Jahr 2002 startete nahmen ihn viele Bekannte nicht für voll. Damals war ihm klar, dass es für sein Vorhaben vielleicht noch etwas zu früh war. Heute aber seien die Menschen reifer, insbesondere sei die arabische Jugend nun eher daran interessiert, etwas Positives für ihre Gesellschaft zu leisten als noch vor 20 Jahren. Das sei ja besonders durch die Ereignisse des Arabischen Frühlings sehr deutlich geworden, so Shani.

Kulturelle Unterschiede unerheblich

Für eine funktionierende interkulturelle Theaterarbeit bedarf es für Shani neben einer guten Vorbereitung der Teilnehmer vor allem der Bereitschaft, an sich selbst und miteinander zu arbeiten. Besonders das Bühnenspiel setze voraus, dass man sich immer wieder selbst überprüfe, wie man auf bestimmte Situation reagiert.

Denn im Grunde genommen, meint Shani, seien die kulturellen Unterschiede völlig unerheblich, sowohl in der Theaterarbeit als auch im wirklichen Leben. Meist seien es die Reaktionen auf diese Unterschiede, die Probleme hervorriefen – also die Tatsache, dass man den Anderen aufgrund seiner Unterschiede bewusst oder auch unbewusst auf- oder abwerte. Dabei handle es sich um eine durch die Gesellschaft anerzogene Reaktion, die auch bei den Jugendlichen zu unterschwelligem Rassismus führe.

Amina Nolte, eine deutsche Teilnehmerin, äußert sich dazu in einem eigenen Kapitel: "Weniger waren es die Dinge, über die wir stritten, als tatsächlich die Art, wie wir dies taten, weil dies ja unglaublich von der Kultur geprägt ist, aus der wir kommen". Die Theaterarbeit und auch die vielen Gespräche halfen jedoch dabei, die kulturell und sprachlich bedingten Missverständnisse aus dem Weg zu räumen. Amina beschreibt den in ihrem Projektjahr gemachten Lernprozess folgendermaßen: "Man kann lernen ein Miteinander zu finden, ohne dass man die eigene Meinung aufgeben muss, sie aber dennoch einem Kompromiss annähern kann".

Kooperation zwischen Privilegierten und Unterprivilegierten

Shani befasst sich in seinem Buch nicht nur mit den positiven Seiten der interkulturellen Zusammenarbeit, sondern weist auch deutlich auf mögliche Gefahren hin. Wenn die Arbeit nicht richtig angegangen wird, könne dies auch die Positionen verhärten und die Unterdrückung vergrößern. Dies musste er in seinem eigenen Projekt miterleben, denn seit 2008 ist "Nemashim" auf Eisgelegt. Vor allem seien es Uneinigkeiten über grundsätzliche Fragen und die fehlende Zusammenarbeit zwischen den Partnern und Vorgesetzten, die zu den Konflikten und zum vorzeitigen Ende geführt hätten.

"Im Projekt ging es ja in erster Linie um die Zusammenarbeit zwischen Ungleichen, zwischen Privilegierten und Unterprivilegierten", erläutert Shani. Unterprivilegiert bedeute hier nicht etwa "minderwertig", sondern dass die Araber nicht dieselben Rechte wie die Hebräer genießen.

Wenn man die Zusammenarbeit zwischen Gleichen und Ungleichen anstrebe, könne man folglich nicht einfach so tun, als seien alle gleich. Man müsse die Unterprivilegierten, also in diesem Fall die Araber, in allen Bereichen und in jeder Form bevorzugen, damit wieder ein Gleichgewicht hergestellt würde und sie das Gefühl bekämen, dass sie dieselben Möglichkeiten haben.

Dies hätten seine Partner und Vorgesetzten nicht so gesehen, also habe dies unweigerlich zu einem Konflikt zwischen ihnen geführt, der sich auch nicht mehr beheben ließ. "Erst wenn wir bereit sind, unser 'Unmenschsein' hinter uns zu lassen und uns gegenüber dem Anderen zu öffnen und ihm auf Augenhöhe begegnen, ist eine wirkliche Zusammenarbeit möglich, die zur gegenseitigen Bereicherung führt", meint Shani abschließend.

Julie Schwannecke

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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

Uri Shani: "Nemashim: Ein arabisch-hebräisches Theaterprojekt", mit einem Beitrag von Amina Nolte, AphorismA-Verlag, Berlin 2011, 164 Seiten