Den Islam aus den Klauen der Fanatiker befreien

Zum ersten Mal ging der wichtigste Deutsche Kulturpreis an ein Kind muslimischer Einwanderer, den 1967 geborenen deutsch-iranischen Schriftsteller und Islamwissenschaftler Navid Kermani. Seine kämpferische Rede dürfte wohl in die Geschichtsbücher eingehen, meint Stefan Weidner, der die Rede verfolgt hat.

Von Stefan Weidner

Am Sonntag den 18.10.2015 wurden die Besucher, die anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Navid Kermani in der Frankfurter Paulskirche zusammenkamen, Zeugen eines wahrhaft historischen Moments. Nicht weil zum ersten Mal ein deutscher Muslim mit der wichtigsten Ehrung ausgezeichnet wurde, welche das kulturelle Deutschland gegenwärtig vergibt. Nicht weil die Preisverleihung in dieser ehemaligen Kirche, welche 1848 der Versammlungsort des ersten frei gewählten Parlaments in Deutschland war, mit einem – religiöse und nicht religiöse Menschen gemeinsam mit einbeziehenden – Gebet endete, welches der Ausgezeichnete angeregt hatte und dem er wie ein Vorbeter mit unsagbarer Würde vorstand.

Nicht weil mehr Besuchern die Tränen in den Augen als wohl je an diesem geschichtsträchtigen Ort. Und auch nicht, weil es (wie ein greiser Besucher, der schon viele Friedenspreisreden gehört hatte, danach sagte), die traurigste Rede gewesen sei, die man hier jemals gehört habe. Sondern weil in einem kollektiven Akt, der sich aus einer bewegenden Rede, aus Aufmerksamkeit, Ergriffenheit und last but not least aus der Anwesenheit wichtiger Politiker und gesellschaftlicher Repräsentanten zusammensetzte –, weil in diesem Festakt der Islam, die Muslime und letztlich alle, die mit Muslimen zu tun haben, aus der Geiselhaft befreit wurden, in die die Muslime seit über anderthalb Jahrhunderten, erst durch den westlichen Kolonialismus, dann durch die Antwort auf ihn in Gestalt des religiösen Fundamentalismus geraten waren.

Leidensgeschichte aus Syrien

Kermani erzählte in seiner Dankesrede unter anderem die Geschichte des Jesuitenpaters Jacques Mourad aus dem syrischen Städtchen Qaryatain, der von den Verbrechermilizen des "Islamischen Staates" (IS) entführt worden war. Dabei muss man wissen, dass Pater Jacques kein Missionar war, sondern einer, der inmitten von Muslimen, für Muslime und in Freundschaft zu ihnen (und sie zum ihm) lebte(n). Er tat viel Gutes in seiner Stadt, wovon sich Kermani bei seinem Besuch in Syrien 2012 selbst überzeugen konnte. Dennoch wurde er vom IS entführt, gefangengenommen, gedemütigt.

Kermani erzählt diese Geschichte und stellt die berechtigte Frage, wie es möglich geworden ist, eine solche und viele andere "Schweinetaten" (so wörtlich) im Namen einer Religion, des Islams, zu vollbringen und zu rechtfertigen. Die Erklärung finden sich, wie Kermani aufzeigte, einerseits in der Geschichte, nämlich in der schockartigen Begegnung der islamischen Welt mit einer oft gewaltsam aufgezwungenen, aus Europa importierten Moderne; und andererseits in der Gegenwart, wo jeder echte Bezug zur historisch gewachsenen Tradition durch die Behauptung der Rückkehr zu einem vermeintlichen Uranfang ersetzt wird. Und wo der Westen die besten Geschäfte ausgerechnet mit Saudi-Arabien macht, dessen Ideologie, der Wahhabismus, mit der Ideologe des "Islamischen Staates" fast identisch ist, und das im eigenen Land, sogar in Mekka und Medina, jede echte Tradition zerstört: "Wo bis vor wenigen Jahren noch das Haus stand, in dem Mohammed mit seiner Frau Khadija wohnte, steht heute ein öffentliches Klo."

Kampf, aber für den Frieden

Ja, Navid Kermanis Rede war eine Kampfansage. Gott sei Dank. Denn dass dieser Kampf, der Kampf gegen die Geiselnahme der Religion durch den "religiösen Faschismus" (so Kermani wörtlich), wie er uns in Gestalt Saudi-Arabiens, des "Islamischen Staates", aber auch Irans begegnet, eines Tages geführt werden muss, und zwar von Muslimen und von Nicht-Muslimen gemeinsam, weil nämlich beide darunter leiden – das haben natürlich auch vorher schon einige gedacht.

Es ist aber noch nie in solcher Klarheit, an einem solch symbolträchtigen Ort, vor einem solch ausgewählten Publikum, vor laufenden Fernsehkameras und mit solcher Dringlichkeit, moralischen Glaubwürdigkeit und rhetorischen Kraft gesagt worden. Ja, es ist schon gedacht und geschrieben worden, aber es ist doch noch nie so wie hier gesagt worden, nämlich so, dass es alle, wirklich alle begreifen und glauben; dass es alle dem Sprecher abkaufen – dem Sprecher, einem gläubigen Muslim, dem nichts ferner steht, als berechtigte Kritik an den negativen Auswüchsen der Religion für Ressentiments, Fremdenfeindlichkeit oder Gefühle billiger moralischer Überlegenheit zu missbrauchen. "Die Liebe zum Eigenen – zur eigenen Kultur, zum eigenen Land und genauso zur eigenen Person – erweist sich in der Selbstkritik", lautete einer der wichtigsten Sätze der Rede.

Jesuitenpater Jacques Mourad; Foto: privat
Entführt von den Verbrechermilizen des „Islamischen Staates“: Pater Jacques war kein Missionar, sondern einer, der inmitten von Muslimen, für Muslime und in Freundschaft zu ihnen (und sie zum ihm) lebte(n). Er tat viel Gutes in seiner Stadt, wovon sich Kermani bei seinem Besuch in Syrien 2012 selbst überzeugen konnte.

"Gibt es Hoffnung?"

Navid Kermani ist dieser Appell gelungen, weil ihm gelungen ist, was einem Schriftsteller gelingen sollte: Das Wort zu gebrauchen, im richtigen Moment, an der richtigen Stelle. Die Befreiung des Islams aus der Geiselhaft des religiösen Faschismus erfolgte an jenem 18.10.2015 in der Paulskirche durch das allen Zuhörern auf sinnlichste Weise erfahrbare Wort, die Parabel.

Die Parabel, das Lehrstück, war in diesem Fall die Geschichte von Pater Jacques Mourad selbst. So wie dieser vom IS gefangen wurde, ist auch der Islam vom IS gefangen genommen worden. "Gibt es Hoffnung?", fragte Navid Kermani mehrmals. "Ja, es gibt bis zum letzten Atemzug Hoffnung", lautete seine Antwort. Und tatsächlich: Pater Mourad ist befreit worden, befreit worden von Muslimen aus den Fängen des IS. Nicht anders hat Navid Kermani durch seine Rede und mit Hilfe seines wie in einer antiken Tragödie mitleidenden, größtenteils gar nicht einmal muslimischen Publikums den Islam aus der Diskursherrschaft der Fanatiker in Ost und West befreit.

In der Paulskirche, die heute gar nicht mehr wie eine Kirche aussieht, sondern eher wie ein Amphitheater, hat Navid Kermani uns und alle, die ein offenes Herz dafür haben, eine Katharsis, eine Läuterung und Waschung der Herzen geschenkt, von der wir erst in dem historischen Moment, in dem wir sie empfangen haben, erkannten, wie furchtbar lange wir sie uns vorenthalten worden war.

Stefan Weidner

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