Nichts ist gut in Afghanistan

Miserable wirtschaftliche Verhältnisse, zehntausende tote Zivilsten, ein korruptes politisches System. Nichts wurde gut in Afghanistan: eine Zwischenbilanz nach dem Beschluss der Nato, in vier Jahren abzuziehen. Von Reinhard Erös

Reinhard Erös; Foto: dpa
"Nach nunmehr neun Jahren Krieg und einem Aufwand der Nato-Staaten von mehr als 700 Milliarden Dollar, ist die Regierung in Afghanistan weit davon entfernt, das zu liefern, was man von einer Regierung in wohl jedem Land der Welt erwarten darf", sagt Reinhard Erös.

​​Die Nato hat also am Wochenende in Lissabon eine neue Strategie verabschiedet. Zum ersten Mal in seiner Geschichte musste das größte Militärbündnis aller Zeiten dabei auch über eine sogenannte "Exit"-Strategie diskutieren - um den Kampfeinsatz in Afghanistan endlich zu beenden.

Vielleicht hätte man die Abzugsstrategie aus Afghanistan besser "Exodus"-Strategie genannt. Exodos bedeutet im Griechischen: der Auszug aus einem Land; Exitus dagegen im Lateinischen und in der Medizin: "Tod".

Nun wird mit einem Rückzug der Nato-Truppen vom Hindukusch wohl nicht das Ende der Nato eingeläutet, wohingegen der Abzug der Sowjetischen Armee Ende der achtziger Jahre auch der Anfang vom Ende des kommunistischen Weltreiches war.

Die im Februar 1989 besiegelte Niederlage der damals stärksten Militärmacht der Welt wurde von den Gerontokraten im Kreml damals wortstark bemäntelt, zumindest in ihren Formulierungen wollten sie siegen, wenn das schon in den Tälern Afghanistans nicht möglich war: "Wir haben unsere sozialistische Bruderpflicht erfüllt und ein stabiles Afghanistan mit einem starken Präsidenten und einer kampfkräftigen afghanischen Armee und Polizei hinterlassen."

Verheerende Bilanz von 1989

Tatsächlich hinterließen sie im Februar 1989 mehr als 1,5 Millionen Tote und fast zwei Millionen an Körper und Seele verstümmelte Afghanen, mehr als sechs Millionen Flüchtlinge in den Nachbarländern, mehr als 15.000 eigene Gefallene, 200.000 verkrüppelte Veteranen sowie ein Afghanistan, das wenig später in Chaos versank.

1994 überrannten die Taliban das Land, beendeten damit zwar die von den Sowjets verschuldete Anarchie, errichteten dafür aber ein Terrorregime, wie es das Land noch nie erlebt hatte. Friedhofsruhe zog ein. Der heute so gefürchtete weltweite islamistische Terrorismus nahm seinen Anfang.

Keine Besserung trotz Millionenhilfen

Wenn sich in vier Jahren - so die Ankündigung des westlichen Bündnisses in Lissabon - auch die Nato-Truppen aus Afghanistan zurückgezogen und das Land den Afghanen zurückgegeben haben, dann spätestens wird sich zeigen, ob dieses Mal ein Staat zurückbleibt, der in der Lage ist, auf eigenen Füßen zu stehen.

Afghanische Schulkinder bei Lesen; Foto: AP
Nach dem Sturz der Taliban herrschen in Afghanistan weiterhin katastrophale Zustände, auch an den Schulen: "Die Qualität des Unterrichts wird immer desolater", meint Erös.

​​Zurzeit sieht es leider nicht danach aus. Im Gegenteil. Nach nunmehr neun Jahren Krieg und einem Aufwand der Nato-Staaten von mehr als 700 Milliarden Dollar - zugegebenermaßen vor allem für die eigenen Truppen - ist die Regierung in Afghanistan weit davon entfernt, das zu liefern, was man von einer Regierung in wohl jedem Land der Welt erwarten darf: ein stabiles Staatsgebilde, das seiner Bevölkerung Sicherheit, einen zumindest bescheidenen Wohlstand und der Jugend eine Zukunftsperspektive bietet.

Im weltweiten Ranking steht das Land bei Korruption seit Jahren an der Spitze, bei Lebenserwartung und Lebensqualität dagegen am Ende der Skala.

Afghanistan hat 30 Millionen Einwohner. Noch nie in der modernen Geschichte hat ein Land von so geringer Bevölkerungszahl in so kurzer Zeit auch nur annähernd soviel finanzielle Unterstützung erhalten wie Afghanistan, 40 bis 50 Milliarden Dollar wohl.

Und trotzdem fehlen der Mehrheit der Menschen in diesem Land weiterhin die elementaren Dinge. Sechs von zehn Afghanen haben noch immer keinen Zugang zu klinischer ärztlicher Versorgung. Acht von zehn Afghanen kennen keine Versorgung mit sauberem Trinkwasser. Auch wegen einer exorbitanten Geburtenrate gehen immer weniger Kinder zur Schule. Warum sollten sie auch, könnte man hinzufügen, die Qualität des Unterrichts wird sowieso immer desolater.

Miserable Wirtschaft

Schlechte Ausbildung der Schüler und miserable Bezahlung der Lehrer sind jedoch verhängnisvoll. Die wenigen akademisch gut ausgebildeten Afghanen werden von den ausländischen Organisationen abgeworben, die ihnen zwar zehnmal so viel zahlen können wie der afghanische Staat; 1.000 Dollar im Monat statt der 100, die man als Lehrer bekommt.

Afghanischer Drogenkonsument raucht Heroin; Foto: AP
"Die Produktion von Opium und Heroin hat sich seit dem Sturz der Gotteskrieger verfünfzehnfacht. Demgegenüber produziert Afghanistan auch nach neun Jahren unter internationaler Obhut so gut wie nichts Legales für den Export", resümiert Erös.

​​Damit können die Abgeworbenen ihre Familien ordentlich ernähren. Aber sie arbeiten bei den Organisationen weit unter ihrem Niveau - als Bürokraft, als Übersetzer, als Kraftfahrer. Brain drain nennt man diese katastrophale Entwicklung.

Anderes Beispiel: 10.000 Kilometer Teerstraßen wurden in den vergangenen Jahren gebaut. Wie schön. Denn alle Ausländer im Land besitzen ein Auto, und die Nato-Truppen brauchen sowieso Straßen. Aber wieviel Prozent der Afghanen sind motorisiert? Weniger als 5 Prozent.

Darüber hinaus hat sich die Produktion von Opium und Heroin seit dem Sturz der Gotteskrieger verfünfzehnfacht. Aus dem Gewinn finanzieren nicht nur Drogenbarone ihre Luxusvillen und Geldanlagen in den Emiraten; auch die Taliban und der internationale Terrorismus speisen ihre Aktivitäten aus diesem schmutzigen Geschäft. Demgegenüber produziert Afghanistan auch nach neun Jahren unter internationaler Obhut so gut wie nichts Legales für den Export.

Der Helfer als Bedrohung

Viele Jahrhunderte lang konnte sich die Bevölkerung ernähren mit dem, was im eigenen Land angebaut wurde. Heute jedoch sind Millionen Afghanen auf Nahrungsmittel aus dem Ausland angewiesen.

Verletzte in Kabuler Krankenhaus nach dem Nato-Luftangriff auf entführte Tanklaster in Kunduz; Foto: AP
"Im vergangenen Jahr sind durch die Nato mehr afghanische Kinder ums Leben gekommen als durch Anschläge der Aufständischen, manchmal kann offenbar der Helfer eine größere Bedrohung sein als derjenige, vor dem er die Leute beschützen will", schreibt Erös.

​​Was hier exponentiell wächst, ist die Zahl der Toten unter den ausländischen Soldaten. Mehr als 2.200 ausländische Soldaten sind inzwischen in dem Land am Hindukusch gefallen, darunter 45 deutsche. Geht die Todesrate bei den Nato-Truppen bis zum geplanten vollständigen Abzug im Jahr 2014 so weiter wie in den vergangenen zwei Jahren, werden es am Ende 4.500 Gefallene sein.

Die Anzahl der getöteten afghanischen Frauen, Kinder und Alten geht in die Zehntausende. Auch ihre Zahl hat sich von Jahr zu Jahr dramatisch erhöht. Im vergangenen Jahr sind durch die Nato mehr afghanische Kinder ums Leben gekommen als durch Anschläge der Aufständischen, manchmal kann offenbar der Helfer eine größere Bedrohung sein als derjenige, vor dem er die Leute beschützen will.

Wenn man dem Jahresbericht 2009 des United Nations Development Programm (UNDP), dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, Glauben schenkt, so ist die humanitäre Lage der Menschen nicht besser als zu Zeiten des Taliban-Regimes.

Was bleibt? Nicht mehr als eine vage Hoffnung: dass der Westen und die Regierung in Kabul in den nächsten vier Jahren doch noch die Wende zum Besseren schaffen, dass der Tod so vieler Menschen nicht umsonst war. Umsonst war das Engagement der Nato am Hindukusch bisher nur in einer Hinsicht nicht: Er war alles andere als kostenlos, er hat Geld verschlungen und Leben zerstört.

Reinhard Erös

© Süddeutsche Zeitung 2010

Reinhard Erös ist Oberstarzt a.D. der Bundeswehr. Zusammen mit seiner Frau Annette und seinen fünf Kindern betreibt er seit 1998 die Kinderhilfe Afghanistan, die in den Ostprovinzen Afghanistans mit dem Bau von Dorf- und Oberschulen, Waisenhäusern, Krankenstationen, Computerausbildungszentren und Berufsschulen humanitäre Hilfe und Wiederaufbauhilfe leistet.

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de

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