Abrechnung mit den pakistanischen Migranten in England

In seinem zweitem Buch schildert Nadeem Aslam das Leben einer pakistanischen Migrantenfamilie in England, die zwischen einer traditionell islamischen Mutter und dem aufgeklärten Rest der Familie auseinander gerissen ist. Stefan Weidner stellt das Buch vor.

​​Nadeem Aslam, der 38-jährige englisch-pakistanische Autor ist mutig. Nicht viele muslimische Autoren wagen es, mit der Religion ihrer Herkunft so unverblümt abzurechnen wie er.

Und wenn es in den pakistanischen Gemeinden in England tatsächlich so mafiös zugeht, wie Aslam es schildert, dürfte er seit der Publikation seines zweiten Romans in Lebensgefahr schweben. Doch bislang scheuen die gläubigen Pakistaner dieses Buch wie der Teufel das Weihwasser. Sie wissen warum.

Liest man es im Kontext der gegenwärtigen Islamdebatten, ist die Botschaft klar: Der Islam, wie er von den meisten muslimischen Einwanderern ausgelegt und praktiziert wird, ist ein finsteres Wahnsystem. Gleich katholischen Priesterseminaren sind die Moscheen ein Paradies für Päderasten.

Fromme Mütter lassen ihre Säuglinge während des Fastenmonats Ramadan beinahe verhungern: "Tagsüber will er einfach nicht trinken." Mädchen werden möglichst abgetrieben.

Erzkonservativer Islam mitten in England

Strenggläubige Eltern, deren Töchter ungehorsam sind, rufen den Exorzisten auf den Plan: "Das Mädchen wurde in den Keller gebracht und über mehrere Tage geschlagen, während die Mutter und der Vater im Zimmer direkt darüber laut im Koran lasen. Sie durfte weder trinken, noch essen, noch schlafen."

Wenn hingegen der Sohn ungehorsam ist, lässt die Mutter vom Imam Beschwörungsformeln über einem giftigen Beruhigungsmittel sprechen, das sie ihm hernach ins Essen streut.

Wenn dann die Kinder von all dem genug haben und den Eltern entfliehen, sorgt eine geheime Organisation für deren diskret-gewaltsame Rückführung.

Eine erwachsene Frau, die sich mit Andersgläubigen einlässt oder vor der Ehe eine Beziehung hat, gilt als vogelfrei. Und weigert sich eine zwangsweise Verheiratete, die Ehe mit ihrem Cousin zu vollziehen, flüstert ihm ihre (!) Mutter zu: "Vergewaltige sie heute Nacht!"

Verabscheuenswürdiger Islam

So verabscheuenswürdig der Islam ist, den Nadeem Aslam schildert (und alle diese Fälle, versichert er, sind belegt …), einer Darstellung, die alles Schlechte auf Religion und Tradition schiebt, haftet unweigerlich eine gewisse Einseitigkeit an.

Und weil sie mit der überbordenden stofflichen, bildlichen und symbolischen Fülle dieses Romans unangenehm kontrastiert, tritt diese einseitige Aussage nur umso schriller zutage. Elf Jahre, betont Aslam, habe er an dem Buch geschrieben.

Das Ergebnis ähnelt einem viel zu groß geplantem Haus, das auf einer Seite bis ins verzierende Detail vollendet ist, von der anderen aber wie eine aufgelassene Bauruine aussieht, die notdürftig bewohnbar gemacht ist.

"Atlas für verschollene Liebende" schildert die Hoffnungen, Wünsche, Ängste und Irrwege pakistanischer Einwanderer in England.

Schauplatz ist ein fast ausschließlich von Ausländern aus dem Subkontinent bewohntes Viertel einer englischen Kleinstadt Mitte der neunziger Jahre.

Spätfolgen einer arrangierten Ehe

Im Zentrum steht die Familie von Shamas und seiner Frau Kaukab, die beiden Söhne Charag und Ujala und die Tochter Mah-Jabin. Während der Vater Kommunist ist, stellt Kaukab eine strenggläubige, äußerst traditionell denkende und ungebildete Frau dar, die außer beachtlichen Kochkünsten nie etwas gelernt hat.

Der damit durch die Familie gehende Riss, die Spätfolge einer arrangierten Ehe, hat das Zeug zur Tragödie und bildete den Dreh- und Angelpunkt des Romans.

Als Wahrerin der Tradition und der guten pakistanisch-islamischen Sitten steht Kaukab allein gegen ihren aufgeklärten Ehemann und die mit dem Älterwerden zunehmend britisch sozialisierten Kinder.

Mangels Englischkenntnissen nicht in der Lage, sich in die Welt ihres Mannes und ihrer Kinder einzufinden, ist diese im Exil vereinsamte, von allen möglichen Ängsten geplagte Frau eine zutiefst unglückliche Figur.

Sie liebt ihre Kinder über alles und doch führt jeder der seltenen Zusammenkünfte zwangsläufig zum Streit und zu tiefer wechselseitiger Verletzung.

Die Familie zwischen Tradition und Moderne

In der Ausfaltung dieses Konflikts gelingen Aslam die bewegendsten Partien des Buchs, mit großartigen, für solche Auseinandersetzungen archetypischen Dialogen.

Obwohl aber der weitaus größte Teil dieser Szenen aus der Sicht Kaukabs erzählt wird, will man für diese traurige Gestalt keine Sympathien entwickeln.

Kaukabs von einem traditionellen, entschieden abergläubischen Islam geprägte Ansichten und ihre daraus resultierenden Untaten, wie etwa den Säugling fasten zu lassen, sind allzu entsetzlich.

Ihre Liebe zu den Kindern ist egozentrisch, ihre Beschränktheit geht über das Maß des in unseren Breiten Vorstellbaren hinaus – und scheint doch für das geschilderte Milieu typisch.

Hemmungslose Schwarzweißmalerei

Da nun aber Shamas und die Kinder als überaus sympathisch und vernünftig dargestellt werden und in ihren fruchtlosen Auseinandersetzungen mit der Mutter stets Recht haben, jedenfalls aus der Sicht des westlichen Lesers, verblasst die tragische Grundkonstellation alsbald zu einer hemmungslosen Schwarzweißmalerei, wo Gut und Böse, Recht und Unrecht allzu klar verteilt sind, um Spannung oder Mitleid zu erregen.

Im an sich ja berechtigten Wunsch, die aufgeklärte Position zu profilieren und die närrische Religiosität der Mutter zu diskreditieren, verrät der Autor seinen Stoff.

Alles, was aus Pakistan kommt und mit dem Islam zusammenhängt ist schlecht, alles, was der Westen lehrt, ist gut, dazwischen gibt es nichts: "Eine Religion, die Millionen Menschen auf der Welt Würde verliehen hat? Amputationen, Steinigungen, Auspeitschungen – nicht barbarisch?"

Aslam hätte nicht elf Jahre an diesem Buch gearbeitet, wenn er nicht geahnt hätte, dass das für einen ambitionierten Roman zu dürftig ist.

Ein kritikersicheres Stahlgerüst

Zum Ausgleich hat er seine Bauruine mit zahlreichen Türmchen, Erkern und stellenweise meisterlich ausgeführtem Stuckwerk versehen sowie ferner als kritikersicheres Stahlgerüst einen kleinen Krimi eingezogen.

Zu den Türmchen zählen die zunächst appetitanregenden, nach etlichen Wiederholungen aber zur Übersättigung führenden Beschreibungen der pakistanisch-indischen Küche.

Kaukab ist nicht nur ein Muslimmonster, sondern auch ein Küchenmonster, und nach den ausgiebigen Gerichten zu urteilen, die hier zubereitet und aufgetischt werden, dürfte der Autor während seiner elfjährigen Klausur einige Fressphantasien entwickelt haben.

Zum Stuckwerk zählen die nicht minder üppigen, teils erfreuenden, teils langweilenden Beschreibungen der mittelenglischen Flora und der Welt der Falter und Schmetterlinge.

Dafür gibt es Vorbilder in der mystischen Literatur des Islam, auf die der Autor wohl anspielen will; manieriert wirkt das dennoch.

Viel poetisches Stuckwerk

Schließlich zählen zu diesem Stuckwerk die vielen, sehr poetischen Vergleiche, bisweilen ebenfalls hart an der Grenze zur Preziosität.

Von einem See heißt es: "Die Farbe seiner Wellen ist von dem besonderen Blaugraugrün, wie man es am Rand einer Glasscheibe sieht, dieser helle Farbstreifen zwischen den beiden Oberflächen."

Bleibt das Stahlgerüst, das das Geschehen auslösende Verschwinden von Shamas' Bruder und seiner jungen pakistanischen Geliebten.

Dieser Ehrenmord, dessen Aufklärung am Ende des Buchs penetrant an den Stil von García Marquez' "Chronik eines angekündigten Todes" erinnert, soll für ein zusätzliches Moment der Spannung und Tragik sorgen, bleibt jedoch nur eine von zahlreichen Nebenhandlungen.

Kosmos traditionell denkender Einwanderer

Sie ist viel weniger anrührend als etwa die Geschichte der geschiedenen Suraya, die mit Shamas ein Verhältnis anfängt, weil sie zu Mann und Kind zurückkehren will, aber gemäß islamischer Vorschrift erst einen so genannten Zwischengatten finden muss, der sie heiratet und seinerseits wieder verstößt.

Kunstfertig im Stil, oft platt in der Aussage, flickschusternd im Aufbau, aber mit Geschichten von großem Potential, hinterlässt Nadeem Aslams im englischsprachigen Raum ein wenig zu laut gefeiertes Werk einen zwiespältigen Eindruck.

Uneingeschränkt empfohlen sei es denjenigen, die sich für den Kosmos traditionell denkender muslimischer Einwanderer im Westen interessieren – ein zunehmend nötiges Interesse. Dieses vorausgesetzt, wird man "Atlas für verschollene Liebende" gerne lesen und vieles lernen. Für sein nächstes Buch allerdings wünschen wir Aslam weniger Zeit und ein besseres Lektorat.

Stefan Weidner

© Fikrun wa Fann/ Art and Thought

Nadeem Aslam: Atlas für verschollene Liebende. Roman. Aus dem Englischen von Rosetta Stein. Rowohlt Verlag, Reinbek 2005. 541 S., geb., 19,90 Euro

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