Zuhause, irgendwo

Die libanesische Schriftstellerin Nada Awar Jarrar legt mit "Zuhause, irgendwo" ein bemerkenswertes Romandebüt vor: Eine poetische Studie über die radikale Vereinzelung heimatloser Menschen. Von Jan Valk

​​"Frauenschicksale im Libanon", "Bürgerkrieg", "Flucht und Exil". Ob man will oder nicht: Solche Wendungen und Begriffe, wie sie im Klappentext zu Nada Awar Jarrars Roman zu finden sind, wirken als Reizwörter und rufen altbekannte Bilder ins Gedächtnis – Bilder, die man seit vielen Jahren aus den Fernsehnachrichten kennt.

So unterschiedlich die Ereignisse und Themen auch sein mögen, eines haben sie – ins Bild gefasst – gemein: Ganz gleich, ob es sich um verschleierter Frauen, Bürgerkriegskämpfer oder Flüchtlingsströme handelt; immer sind es Menschen, die in großen Gruppen auftreten.

Wollte man diesen Bildern trauen, so könnte man meinen, dass es den "individuellen Araber" schlechthin gar nicht gebe; dass es gewissermaßen eine Eigenschaft "der Araber" sei, ausschließlich als (unkontrollierbare, oftmals fanatisierte) Masse in Erscheinung zu treten.

Die Angaben im Klappentext sind nicht aus der Luft gegriffen: "Frauenschicksale im Libanon" - "Bürgerkrieg" - "Flucht und Exil" sind tatsächlich die zentralen Themen von "Zuhause, irgendwo". Die wohlbekannten Nachrichtenmotive wird man hier jedoch nicht finden:

Blickwinkel auf das Individuelle

Die libanesische Schriftstellerin Nada Awar Jarrar durchkreuzt gekonnt den Mythos der "arabischen Masse" und liefert eine poetische Studie über die radikale Vereinzelung heimatloser Menschen. "Zuhause, irgendwo" ist damit nicht nur ein bemerkenswertes Erzählstück. Es eröffnet auch einen Blickwinkel auf das Individuelle, an dem es in der Berichterstattung besonders derzeit schmerzlich mangelt.

Jarrar lässt in ihrem Buch drei sehr unterschiedliche Frauen zu Wort kommen: Maysa, eine junge Schriftstellerin, welche in den Bürgerkriegsjahren Beirut verlässt, um im abgelegenen Haus ihrer Großeltern eine Tochter zur Welt zu bringen; die Grundschullehrerin Aida, die, obwohl sie bereits als Kind den Libanon verlassen hat, die Geister ihrer Vergangenheit nicht loswerden kann – und wohl auch nicht möchte.

Und zuletzt die alte Salwa, welche in einem australischen Altenheim auf den Tod wartet und sich noch einmal träumend auf die Suche nach den weit verstreuten Geschichten ihres Lebens macht.

Das Leitmotiv: Verlust der Heimat

Die drei Frauen werden sich im Roman nie begegnen. Sie sind durch Raum und Zeit getrennt. Und doch besteht zwischen ihnen eine Verbindung, die der Text langsam und sehr behutsam freilegt: Jede von ihnen hat auf ihre Weise "Heimat" verloren und sucht nun Zuflucht in der Erinnerung; in der Möglichkeit, erzählend ihren Standort zu bestimmen.

Bei der Lektüre merkt man bald, dass die Autorin genau weiß, wovon sie spricht. Nada Jarrars Biographie liest sich selbst wie eine Paraphrase der im Roman verarbeiteten Frauenschicksale: 1958 als Tochter eines libanesischen Vaters und einer australischen Mutter in Beirut geboren, erlebte sie bereits in jungen Jahren Bürgerkrieg, Flucht und Exil.

Bis zu ihrer Rückkehr in den Libanon Mitte der Neunziger lebte sie in London, Washington, Paris und Sydney, Orte, die – zumindest als Richtungsmarken – auch im Roman auftauchen.

Aufbruch in die Fremde, Sehnsucht nach den verlorenen Stätten der Jugend, aber auch das schmerzhafte Wissen um die Unmöglichkeit, nach einer Heimkehr weiter machen zu können wie zuvor, das sind die zentralen Themen des Romans.

Bedingungslose Bejahung des Lebens

Doch obwohl die Figuren in vielerlei Hinsicht Opfer grausamer Zustände werden, ist nur selten Ohnmacht in den Geschichten zu spüren. Der Bedrohtheit durch Krieg, Unterdrückung und Heimatlosigkeit begegnen Maysa, Aida und Salwa nicht mit Resignation, sondern – jede auf ihre Weise – mit einer bedingungslosen Bejahung des Lebens.

"Zuhause, irgendwo" ist kein Text, der sich zum Ziel gemacht hat, seine Themen dokumentarisch anzugehen. Hier geht es nicht darum, präzise zu berichten. Der Wirklichkeitszugang, den die "Erzählerinnen" für sich wählen, ist ein entschieden poetischer. Dass dabei hin und wieder die Bilder sich ins fast klischeehaft Orientalisierende versteigen, kann man gut verschmerzen.

Denn was hier gewonnen wird, ist etwas äußerst Seltenes: Nada Jarrar legt Schichten frei, die unter der dichten Decke der Nachrichtenberichterstattung unsichtbar geworden sind. "Zuhause, irgendwo" hat keine spektakulären Bilder zu bieten. Die Erzählung besticht vielmehr durch eine beachtliche Vielfalt an Perspektiven.

Nada Awar Jarrar erzählt die Geschichten verletzter Menschen, die ihr Recht auf Heimat einfordern und mit viel Kraft und Hoffnung ein neues Zuhause suchen. Wie eine der Figuren im Roman selbst es formuliert: "Geschichten von der Nähe der Liebe und der Gewissheit des Verlusts".

Jan Valk

&copy Qantara.de 2004

Nada Awar Jarrar: "Zuhause, irgendwo", aus dem Englischen von Barbara Heller, Karl Blessing Verlag, München 2004, 223 Seiten, 19,00 EUR.