Maxime Rodinson ist tot

Der französische Historiker und Soziologe Maxime Rodinson gehörte zu den wenigen westlichen Orientwissenschaftlern, die im Westen und der islamischen Welt gleichermaßen geschätzt wurden. Martina Sabra mit einem Nachruf

​​Rodinsons "Muhammad" verschlangen wir im ersten Semester Islamwissenschaft. Später lasen wir mit Begeisterung "Die Araber". Aber erst als wir "Islam und Kapitalismus" durcharbeiteten, fiel es uns wie Schuppen von den Augen: Konnte es sein, dass es ihn gar nicht gab, den angeblich unwandelbaren "islamischen Menschen", der durch unsere angestaubte islamwissenschaftliche Literatur geisterte? Und war es nicht vermessen, angesichts der Vielfalt des Islam von DEM Islam zu sprechen, als gäbe es nur eine Art und Weise, das MuslimInsein zu leben?

Maxime Rodinson vermied es in seinen Studien und Aufsätzen, von DEM Islam zu reden; er sprach lieber über das Leben, Denken und Fühlen der "MuslimInnen". Dahinter steckte die selbstverständliche Bereitschaft des Humanisten Rodinson, jedem Muslim, jeder Muslimin, jedem Araber, jeder Araberin genau die gleiche Subjektivität und Individualität zuzubilligen wie sich selbst.

Bei Rodinson waren die Araber, die Muslime keine anonyme Masse Mensch, willenlos, fatalistisch und passiv den Vorschriften des Korans unterworfen und grundsätzlich "anders". Es gab einen über tausend Jahre alten Konflikt zwischen Arabern und Europäern, in dem beide Parteien lange Zeit ideologische Konkurrenten gewesen waren; im 18. Jahrhundert waren die Araber in diesem Konflikt unterlegen. Die Gründe dafür waren historisch nachvollziehbar und ein Teil der konfliktreichen Beziehung vor diesem Hintergrund zu verstehen.

Respekt vor dem Wissenschaftler und dem Menschen

Marxistisch, materialistisch, links: welches Etikett Rodinson anhaftete, war uns gleichgültig. Was zählte, war, dass er uns animierte, die essentialistische "islamische Brille" abzunehmen und uns den Menschen der islamischen und arabischen Welt auf Augenhöhe zu nähern. Lange vor dem Erscheinen von Edward Saids "Orientalismus" lernten wir mit Rodinson, im angeblich "Anderen", uns selbst wieder zu finden, mit unseren Stärken und unseren Schwächen.

Unseren Respekt genoss Rodinson nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch als Mensch, der alle Höhen und Tiefen des 20. Jahrhunderts hautnah miterlebt und sich dabei doch die Menschlichkeit bewahrt hatte.

Die akademische Karriere musste sich der Arbeitersohn aus armer Familie hart erarbeiten: neben diversen Jobs, mit denen er seinen Lebensunterhalt verdiente, paukte der junge Rodinson im Alleingang Äthiopisch und Linguistik und schaffte ohne Abitur direkt den Sprung an die Schule für Orientalische Sprachen.

Kritik am Zionismus

Rodinsons Eltern, russisch-polnische Juden, die vor seiner Geburt nach Frankreich emigriert waren, wurden von den Nazis nach Auschwitz verschleppt und getötet. Dennoch wurde Rodinson nicht zu einem glühenden Zionisten, im Gegenteil: als überzeugter Marxist stand er der Idee eines religiös begründeten jüdischen Staates äußerst kritisch gegenüber.

1968 gründete er zusammen mit dem Berber-Forscher Jaques Berque die "Forschungs- und Aktionsgruppe für Palästina". Rodinson forderte, dass Juden und Palästinenser beide das Recht auf einen jeweils eigenen Staat haben müssten, und er wurde nicht müde, die israelische Besatzungs- und Vertreibungspolitik an den Palästinensern anzuprangern.

Für eine Veränderung des Orientbildes in der Gesellschaft

Rodinsons Vater war Kommunist gewesen; auch Rodinson gehörte zwanzig Jahre der kommunistischen Partei Frankreichs an. 1958 trat er aus. Er ließ sich von der Parteiführung garantieren, dass er jederzeit wieder eintreten könnte, machte von dieser Möglichkeit aber keinen Gebrauch. Rodinson, der sich selbst als "Agnostiker" bezeichnete, sagte später, er habe sich über sich selbst gewundert, dass er so viele Jahre seines Lebens einer Quasi-Religion gewidmet habe.

Rodinson, von Haus aus Sprachwissenschaftler und Religionssoziologe, überschritt in seiner Arbeit die Grenzen der Disziplinen. Er war Philologe, Soziologe, Historiker und Zeitkritiker: Er schrieb nicht für die Regale von Universitätsbibliotheken, sondern wollte mit seinen Arbeiten auch öffentliche Debatten mitgestalten, das Orientbild des Westens und damit letztlich das Zusammenleben der Gesellschaften verbessern.

Differenzierte Betrachtung der islamischen Ländern vonnöten

Den Golfkrieg 1991 und die Theorien Samuel Huntingtons vom unvermeidlichen "Zusammenprall der Zivilisationen" kritisierte Rodinson als platt und gefährlich. Nach dem 11. September 2001 warnte er immer wieder davor, den islamischen Terrorismus auf die religiöse Rhetorik zu reduzieren und forderte dazu auf, die komplexen sozialen und ökonomischen Ursachen zu erforschen: das Wohlstandsgefälle, die Diktaturen in den arabischen Ländern.

Als dennoch tausende in die Buchhandlungen stürmten und Korane kauften, weil sie glaubten, darin Erklärungen für den Terror zu finden, muss der bejahrte Gelehrte entsetzt gewesen sein. Aber er kämpfte weiter, in zahlreichen Interviews und Aufsätzen gegen die wachsende Kluft zwischen Orient und Okzident.

"Maxime Rodinson ist tot, sein Werk ist es nicht", schreibt der algerische Historiker und FLN-Veteran Mohammed Harbi, "es wird ein lebendiger Bestandteil der fortschrittlichen Bewegungen in der arabischen Welt bleiben." Möge Mohammed Harbi Recht behalten.

Martina Sabra

© Qantara.de 2004