Ikone des arabischen Feminismus

Die weltbekannte marokkanische Soziologin und Schriftstellerin Fatima Mernissi war eine Vermittlerin zwischen der Kulturen und eine charismatische Kämpferin für einen genuin arabischen Feminismus. Sie starb am 30. November 2015 im Alter von 75 Jahren. Von Suleman Taufiq

Von Suleman Taufiq

Fatima Mernissi wurde 1940 in Fes geboren, einer traditionsreichen Stadt Marokkos. Sie gehörte einer Generation an, die dort noch eine nationale und keine französische Schule besuchte. Später studierte sie in Paris und in den USA Soziologie und Politikwissenschaft und wurde Professorin für Soziologie in Rabat.

Sie wuchs, wie sie es nannte, in einem Harem auf, einem abgeschlossenen Bereich, der nur den Frauen vorbehalten war. "Der Harem war eine Institution, ähnlich wie die der Familie", erklärte sie später. In diesem Harem bekam Mernissi Einblick in das Leben der Frauen in ihrer Gesellschaft.

Ihre Mutter und ihre Großmutter waren noch Analphabetinnen. Aber sie haben ihr von Scheherezade erzählt. Diese Frau aus den Erzählungen aus "Tausendundeine Nacht" hat sie sehr beeindruckt. "Scheherezade war eine schöne Frau. Sie hatte Macht und war sehr klug. Sie hat den Sultan von seiner Krankheit geheilt", erzählte Mernissi. Das war für sie ein Traum, den ihr die Frauen im Harem mitgegeben hatten. Er enthielt für sie das Versprechen, ein würdiger Mensch sein zu wollen. Daher bestand ihr Hauptanliegen darin, dass sich arabische Frauen Gehör verschaffen und ihre Stimme gegen gesellschaftliches Unrecht erheben können.

"Schreiben ist die beste Schönheitskur"

"Früher war die Frau zur mündlichen Überlieferung verurteilt. Sie hatte kein Recht auf Bildung und kein Recht zu schreiben", erkannte sie bereits früh. Und sie erkannte, dass Schreiben ein großartiges Mittel ist, womit sich die Frau von den Zwängen der Gesellschaft befreien konnte: "Allein aufgrund der Tatsache, dass du schreibst, besitzt du eine Stimme! Die Macht – das ist der Schlüsselbegriff, wenn vom Schreiben die Rede ist", so Mernissi.

Buchcover "Der Harem in uns" von Fatima Mernissi im Verlag Herder
In ihren theoretischen Schriften setzte sich Mernissi kritisch mit der Lage der Frauen in der muslimischen Welt auseinander. In einem autobiografischen Buch mit dem Titel "Der Harem in uns - Die Furcht vor dem anderen und die Sehnsucht der Frauen" arbeitete sie ihre Kindheit auf.

Sie wollte, dass Frauen nicht mehr schweigen, sie sollten reden und erzählen wie Scheherezade, und das tat sie, und zwar mit Witz und Humor, indem sie sagte: "Schreiben ist die beste Schönheitskur."

Eine Frau, die sich nicht äußert und sich nicht ausdrückt, war für Fatima Mernissi eine verschleierte Frau. Nicht das Kopftuch zählte, sondern das Schweigen war der wahre Schleier.

In allen ihren zahlreichen Büchern, die sie auf Französisch und Englisch verfasste und die in mehr als dreißig Sprachen übersetzt sind, darunter auch in deutscher Sprache, hat sie sich weit über die Grenzen Marokkos hinaus Geltung verschafft.

Zum Beispiel reflektiert sie in dem Buch "Geschlecht, Ideologie, Islam" über die Stellung der Frau im Islam. Darin legt sie eine interessante Studie zum Verhältnis der Geschlechter in den vorislamischen und islamischen Gesellschaften vor und stellt fest, dass im Islam die Sexualität, anders als im Christentum, als eine positive Kraft gilt.

In ihrem Buch "Der Harem ist nicht die Welt" räsoniert sie über das Frauenleben in Marokko. Und ihr Werk "Der politische Harem" bricht ein gesellschaftliches Tabu, in dem sie aufzeigt, dass die überaus problematische Position der Frau im politischen und sozialen Bereich bereits seit der Gründung des Islams vorhanden ist.

Auch in anderen Büchern, wie in ihrer historischen Studie "Die Sultanin. Die Macht der Frauen in der Welt des Islam" schrieb sie über die Stellung der Frauen. Sie erzählte die Lebensgeschichten dieser Sultaninnen des Islams in Delhi, Kairo, Sanaa und Granada und lieferte damit einen Beitrag zur totgeschwiegenen Macht der Frauen in den islamischen Ländern.

Abgrenzung vom westlichem Feminismus

Fatima Mernissi versteht sich als Feministin, doch ihr Feminismus unterscheidet sich deutlich vom westlichen, der immer wieder eine zumindest vorläufige gesellschaftliche wie auch literarische Abgrenzung der Frauen von den Männern forderte. Zur Frauenbewegung in der westlichen Welt äußert sie sich folgendermaßen:

"Es gibt große Unterschiede zwischen der arabischen und der europäischen Frauenbewegung. Die arabische Frauenbewegung ist keine reine Frauenbewegung. Sie besteht aus Frauen und aufgeklärten Männern. Die Frauenbewegung im Westen ist eine reine Frauenbewegung, die Männer haben dort nichts zu suchen."

Denn in Marokko und in den anderen arabischen Ländern gibt es Männer, die sich intensiv mit der Frauenproblematik beschäftigen und darüber viel und engagiert schreiben, wie zum Beispiel Qassim Amin in Ägypten, den sie sehr verehrt hat: "Ich bin immer eine Anhängerin des Aufklärers Qassim Amin gewesen, der sagte: 'In der islamischen Gesellschaft wurde die Frau verschleiert, weil der Mann Angst vor ihr hatte'". Mit diesem Satz hatte sie den Zusammenhang zwischen Schleier, Mauer und Angst umrissen. Denn der arabische Mann hält seine Angst vor der Frau mit diesen Mitteln sehr effektiv in Grenzen.

Mernissis Position entspricht einer politisch und kulturell aufgeklärten Haltung. Die Menschen, die sie unterstützt und gefördert haben, waren nicht Frauen, sondern Männer. "Bei uns haben wir kein Problem mit dem Mann. Wir sind keine Feinde. Wir verlangen sogar, dass wir mit dem Mann zusammenkommen! Denn wir kommen aus einer Gesellschaft, die die Trennung zwischen Mann und Frau institutionalisiert hat. Der Mann lebt in einer Welt und die Frau in einer ganz anderen Welt", stellte sie einst fest.

In ihrer letzten Schaffensphase, als sie sich von den akademischen Zwängen befreit fühlte, wie sie einmal sagte, begann sie andere Akzente in ihrer Arbeit zu setzen. "Früher wollte ich mich durch rationales Denken behaupten, obwohl ich so wie die Sängerin Asmahan sein wollte. Ich habe die Frauen beneidet, die Fiktionen schreiben konnten, meinte sie.

Fatima Mernissi; Foto: privat
2003 wurde Fatima Mernissi gemeinsam mit der amerikanischen Schriftstellerin Susan Sontag mit dem Prinz-von-Asturien-Preis in der Sparte Literatur ausgezeichnet. Die Jury begründete ihre Entscheidung damit, dass die beiden Autorinnen in ihren Werken wesentliche Fragen der Gegenwart aufgegriffen hätten und für einen "Dialog der Kulturen" einträten.

Das begann mit dem Buch "Der Harem in uns". Darin erzählt sie reale Geschichten in subjektiver Form: "Als Kind war mein Traum, einmal Clown zu werden oder Schauspielerin, aber die Familie hat mir das nicht erlaubt. Sie sagten: Nein Fatima, du sollst Lehrerin, Ärztin oder Advokatin werde".

Kritik an westlichen "Harem-Vorstellungen"

Fatima Mernissi beschränkte ihre Kritik nicht nur auf die islamische Welt, sondern kritisierte auch die Haltung der westlichen Welt zu Frauen im Islam. In ihrem Buch "Scheherazade Goes West", auf Deutsch: "Harem, westliche Phantasien - östliche Wirklichkeit" schrieb sie, dass die Vorstellungen der westlichen Kultur über den Harem mit jenem Harem, den sie selbst kennengelernt hatte, nichts gemeinsam haben. Der Harem sei alles andere als ein Bordell. Er sei schlicht der Teil des Hauses, zu dem Männer keinen Zutritt haben.

Zum ersten Mal schrieb sie ein Buch, das an den Westen gerichtet war. Das ist nicht leicht, meinte sie: "Die Menschen im Westen sind gewohnt, über uns zu schreiben. Sie haben sich ein Bild von uns erschaffen. Ich habe das Buch verfasst, um den Unterschied zwischen zwei Betrachtern zu untersuchen: dem westlichen und dem orientalischen Mann."

Viele Männer der westlichen Welt finden das Wort "Harem" amüsant. Mernissi findet, dass der Harem in ihnen zügellose Phantasien weckt: „Männer beginnen von ausschweifenden Orgien zu träumen. Sie halten den Harem für erotisch und haben die Vorstellung, im Harem seien Männer ständig von nackten oder halbnackten Frauen umgeben, es herrschten Gelassenheit und unendliche Genussmöglichkeiten. Auch manche Frauen im Westen denken so“.

Das Problem der heutigen arabischen Frau liegt für Fatima Mernissi nicht im Harem, sondern an der fehlenden Erfahrung mit Demokratie und Gleichberechtigung bei Frauen und Männern. Dafür hat sie lebenslang mit ihrem Wort gekämpft. Mit ihrem Tod hat die arabische Welt eine großartige Denkerin, Aufklärerin und Humanistin verloren.

Suleman Taufiq

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