Der Klangpoet Marokkos

In seinem Land wird Saïd Chraïbi als Ikone der marokkanischen Musik und als König der arabischen Laute bezeichnet. Der renommierte Oud-Virtuose starb am 3. März im Alter von 65 Jahren in Casablanca. Ein Nachruf von Suleman Taufiq

Von Suleman Taufiq

Saïd Chraïbi wurde 1951 in eine angesehene Familie in Marrakesch hineingeboren. Von den Marokkanern wird die Stadt als "Die Perle des Südens" gepriesen. In Marrakesch gibt es zahlreiche hoch entwickelte Musiktraditionen. Sie sind so vielfältig, dass ihr Einfluss weit über die Grenzen Marokkos hinaus wirksam wurde.

Hier, wo Musik und andere Künste mehr als bloße Unterhaltung bedeuteten, wuchs Saïd Chraïbi auf. Musik repräsentierte für ihn wie für viele Zuhörer Hoffnung, ein Gefühl des Miteinanders, Trance und sogar Heilung.

Seine Familie erlaubte ihm schon in einem sehr frühen Alter, sein Talent als Oudspieler zu entwickeln. Im Alter von zwölf Jahren begegnete er dem Oud, der arabischen Kurzhalslaute. Er verliebte sich sofort in dieses Instrument und war fasziniert von seiner Form und seinem Klangvolumen.

Aber der Junge musste, wie seine Familie meinte, zuerst einen "anständigen" Beruf erlernen. Nach dem Abitur in Rabat machte er eine Ausbildung zum Exportkaufmann. Kurz danach kündigte er seine Stelle und entschied sich nun endgültig, sich ausschließlich der Musik zu widmen.

Autodidakt mit Leidenschaft

Saïd Chraïbi war Autodidakt, und alles entwickelte sich bei ihm durchs Zuhören und durch intensives Üben. Seine Leidenschaft zur Musik hat ihn zu einem sehr wichtigen Lautenspieler und Komponisten werden lassen, zu einem Künstler, dessen Musik auch außerhalb seines Landes aufmerksam gehört wurde. Man nannte ihn den Klangpoeten Marokkos.

Chraïbis professionelle Karriere begann 1979. Seitdem hat ermehr als 500 Kompositionen veröffentlicht, darunter Kompositionen für Gesang, für Taqsim (Improvisation), für Solisten, orientalisches Orchester, Symphonie-Orchester und Jazzensembles. Viele marokkanische Stimmen haben von seinen Kompositionen profitiert. Sein Faible für Melodien brachte ihm in der marokkanischen Musikwelt große Anerkennung.

Der arabische und internationale Durchbruch kam, als Saïd Chraïbi 1986 das "Goldene Plektrum" bei einem Oud- Wettbewerb im Irak gewann. Danach tourte er durch ganz Nordafrika und den Nahen Osten und trat auch auf dem berühmten "Festival sakraler Musik" in Fez auf.

Saïd Chraïbis musikalische Originalität bestand vor allem in einer hervorragenden Instrumentaltechnik, die er mit einer besonderen Balance verband, einer Balance, die zwar Respekt vor der musikalischen Tradition seines Landes hatte, aber auch eine kreative Neugier zuließ, die sich durch die internationalen musikalischen Einflüsse anregen ließ.

Diese Offenheit allen musikalischen Möglichkeiten gegenüber hat den Musiker Chraïbi zu einem der interessantesten Vertreter der marokkanischen Musik und zu einem ihrer wichtigsten Erneuerer werden lassen. In der arabischen Welt wurde er als der große Virtuose auf der Laute angesehen. Er verkörperte eine Schule des Oudspiels und war ein Vorbild für viele Lautenspieler in Marokko. Musiker wie Saïd Chraïbi lassen sich gerne von dieser traditionellen Musik inspirieren, um dann ihren eigenen, modernen Musikstil zu entwickeln.

Synthese andalusischer, türkischer und persischer Musikkulturen

Erst spät begann er, neue Musikgenres zu entdecken, die mit der arabischen Musik verwandt waren wie die indische, türkische und iranische Musik und strebte danach, sein Erbe andalusisch-arabischer Musik bekannt zu machen. Mittlerweile ist Saïd Chraïbi eininternational anerkannter Künstler von hohem Rang. Er repräsentierte die marokkanisch-andalusische Schule und besaß zudem eine enzyklopädische Kenntnis des arabischen, türkischen und persischen Maqams.

Mit seiner Musik baute Saïd Chraïbi Brücken zwischen den Kulturen. Er arbeitete theoretisch und praktisch intensiv an Gemeinsamkeiten zwischen der arabischen, andalusischen, türkischen und persischen Musik. Er schrieb Kompositionen, die eine Synthese dieser Kulturen waren.

So zeichnet sich seine Musik durch die besondere Vielfältigkeit und Farbigkeit aus, die er auch seinen musikalischen Ausflügen in die Musiken der Welt verdankt. Doch die Elemente der marokkanischen Tradition bleiben in seiner Musik vorherrschend und sind unüberhörbar. Sie verbergen ihre Herkunft nicht, sind aber mehrfach gebrochen und inzwischen durch seinen persönlichen Stil geprägt. Dennoch steht seine Musik außerhalb vieler Konventionen und hat die Möglichkeiten des Lautenspiels bedeutend erweitert.

Im Vergleich zu vielen anderen orientalischen Instrumenten verkörpert die Laute die arabische Kultur. Viele Araber finden im Klang dieses Instruments einen Hauch von Nostalgie und Zärtlichkeit.

Mit seiner Lautenmusik gelang es Chraïbi, ein großes Publikum in der arabischen Welt wie auch in Europa anzusprechen. Seine Spieltechnik und seine Melodien zeigen, dass die Laute tatsächlich ein unerschöpfliches Reservoir an Möglichkeiten besitzt. Im Laufe der Jahre entwickelte Saïd Chraïbi seine eigene Technik des Lautenspiels und komponierte neue Stücke, die das große Spektrum seines Instruments weiter ausleuchteten.

Frei von Konventionen

In der arabischen Musikszene hatte sich früher die Tradition, Konzerte auf einem Solo-Instrument zu spielen, noch nicht herausgebildet. Musik ist bei den Arabern fast immer mit Gesang verbunden. Die Laute ist in der arabischen Welt in der Regel nur im Rahmen eines Ensembles zu hören. Nur als Einstieg in ein Konzert spielt der Oud-Spieler ein Taqsim, eine konzertante Improvisation.

Chraïbi wollte zeigen, dass die Laute wirklich unerschöpfliche Möglichkeiten besitzt. Er entfernte sich von den traditionellen Formen arabischer Instrumentalmusik und kleidete die Musik neu ein. Er spielte moderne Kompositionen auf der Laute, ohne dabei jedoch die Grundlage der arabischen Musik zu verlassen.

Um arabische Zuhörer über einen längeren Zeitraum hinweg zu faszinieren oder gar für ein ganzes Solo-Lautenkonzert zu gewinnen, war es nötig, sich von überlieferten Formen zu lösen und einen neuen musikalischen Stil zu entwickeln.

Saïd Chraïbi plädierte dafür, die Laute aus der Rolle des Begleiters zu befreien. Diese Offenheit nach allen Seiten hat den Musiker Saïd Chraïbi zu einem der interessantesten Vertreter der marokkanischen Musik werden lassen Mit seinem Tod verliert die arabischen Musikwelt einen großen Künstler und einen originellen Komponisten.

Suleman Taufiq

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