Generation Zufall

Am 22. Oktober starb der berühmte irakische Gegenwartslyriker, Erzähler und Übersetzer Sargon Boulus in Berlin. Ein Nachruf von Mona Naggar

Sargon Boulos; Foto: Samuel Shimon
Sargon Boulos: "Ich bin meiner Phantasie hinterhergereist."

​​Sargon Boulus gehörte zu den wichtigsten arabischen Dichtern der Gegenwart. Er führte die Modernisierung der arabischen Lyrik, die seine Landsleute Badr Shakir Al-Sayyab und Nazik Al-Malaika nach dem Zweiten Weltkrieg begannen, konsequent weiter.

Nicht zuletzt unter dem Einfluss der amerikanischen und englischen Lyrik entwickelte Boulus seinen eigenen unverwechselbaren Stil, der für viele der jüngeren arabischen Lyriker zum Vorbild wurde. Seine Gedichte sind erzählerische Stimmungsbilder voller Details und bedienen sich einer einfachen Sprache.

Boulus machte sich auch als Erzähler und als erstklassiger Übersetzer englischsprachiger Lyrik ins Arabische einen Namen. Er übersetzte unter anderem Sylvia Plath, Allen Ginsberg, Gary Snyder und Seamus Heaney ins Arabische.

Boulus wurde 1944 in der Nähe des Habbanijasees in eine einfache assyrische Familie hineingeboren. Ende der 50er Jahre siedelte die Familie in die nordirakische Stadt Kirkuk um, wo Boulus zu schreiben begann. Seine nächste Station war Bagdad, das Mitte der 60er Jahre tief greifende politische und gesellschaftliche Umwälzungen erlebte.

Auch auf literarischem Gebiet war einiges in Bewegung. Boulus traf auf Gleichgesinnte, die er "Generation des Zufalls" nannte: junge ambitionierte Literaten, die oftmals, wie er, aus kleinen Dörfern stammten oder aus dem Süden des Landes, und von der Begeisterung für Literatur getrieben wurden.

Aber auch die Hauptstadt wurde ihm bald zu eng. Eine Zwischenstation war Beirut, wo er in den 60er Jahren an der avantgardistischen Literaturzeitschrift Shir mitarbeitete. Schließlich wanderte er nach San Francisco aus.

In einem Interview antwortete Sargon Boulus einmal auf die Frage, was einen jungen Mann dazu treibe, sein Land und der gesamten arabischen Welt den Rücken zu kehren: "Ich glaube, es ist die Phantasie. Wenn ich etwas lese, stelle ich es mir vor. Meine Lektüre hat mich mit Träumen erfüllt. Ich bin meiner Phantasie hinterhergereist."

Obwohl Boulus sich nach dem Ausbruch aus seiner Heimat in jungen Jahren nie wieder über einen längeren Zeitraum im Irak aufhielt, betonte er stets die Quellen seiner Kindheit und der ursprünglichen Umgebung, die für sein literarisches Schaffen grundlegend waren. Aber ebenso unerlässlich war die Distanz, die "den Dichter zwingt unaufhörlich eine innere Prüfung abzulegen".

Boulus Leben ist ein Paradebeispiel für die irakischen Lyriker seiner Generation: Vertrieben, auf der Flucht vor politischen und gesellschaftlichen Zwängen, Träumen nachjagend, wohl wissend, dass sie Illusion bleiben werden.

Er scherte sich nicht um den arabischen Kulturbetrieb und um Ruhm. Nicht er, sondern Freunde und Bewunderer bemühten sich um die Publikation seines Werkes.

In den letzten Jahren pendelte Sargon Boulus zwischen Amerika und verschiedenen europäischen Städten. Berlin war seine letzte Station. Am 22. Oktober ist er dort im Alter von 63 Jahren gestorben.

Mona Naggar

© Qantara.de 2007