Aufbruch zu neuen Ufern oder zurück auf Los?

Bedeutet der Wahlsieg von Nidaa Tounes eine Rückkehr zu alten Mechanismen, Seilschaften und Machtstrukturen? Oder wird es dem politischen Zweckbündnis gelingen, neue Akzente für Tunesiens Zukunft zu setzen, gesellschaftsfähige Kompromisse zu fördern und dringend anstehende Wirtschaftsreformen rasch anzugehen? Von Isabel Schäfer

Von Isabel Schäfer

Drei Jahre nach den ersten freien Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung (ANC) im Oktober 2011, haben die tunesischen Bürger sich nun neu entschieden: Nach einer ersten Erfahrung mit der islamistischen Ennhada-Partei in der Regierungsverantwortung (2011 bis 2013) wünscht sich die Mehrheit der Tunesier nun doch eher eine Rückkehr zu Stabilität und Sicherheit und keinen vorrangig religiös geprägten politischen Kurs.

Stabilität und Sicherheit verspricht sich die Mehrheit der Wähler nun von der Partei Nidaa Tounes, die eine Art Sammelbecken für Wirtschaftsliberale, Anhänger und Vertreter des alten Regimes, aber auch für Gewerkschafter und einige Intellektuelle ist.

Sogar von Linksliberalen und Intellektuellen war dazu aufgerufen worden, "taktisch" zu stimmen – also für Nidaa Tounes – mit dem vorrangigen Ziel, eine Mehrheit für die Ennahda-Partei zu vermeiden. Diese Strategie scheint aufgegangen zu sein.

Die Ergebnisse der Parlamentswahlen machen Nidaa Tounes mit 85 Sitzen (von 217) zum eindeutigen Wahlsieger. Es folgen Ennahda mit 69 Sitzen und die Union Patriotique Libre (UPL) mit 16 Sitzen. Die UPL wurde von dem Geschäftsmann Slim Riahi gegründet, Besitzer des "Club Africain de Football".

Überraschende Erfolge konnten einige kleinere Parteien, wie die linksextreme Front Populaire von Hamma Mammami mit 15 Sitzen oder Afek Tounes (8 Sitze) verzeichnen. Eindeutige Verlierer sind die sozialdemokratisch orientierte Ettakatol-Partei (1 Sitz) des ANC-Präsidenten Mustafa Ben Jafaar, der auch zu den Präsidentschaftswahlen antritt, sowie die CPR-Partei (4 Sitze) des aktuellen Präsidenten Moncef Marzouki. Auch viele andere kleinere Parteien haben vergleichsweise schlecht abgeschnitten, wie z.B. die Parti Républicain.

Abgestrafte Islamisten

Ennahda hat offiziell eine Wahlniederlage eingeräumt, mit der die Parteiführung unter Rachid al-Ghannouchi und Generalsekretär Ali Larayedh nicht in dem Maße gerechnet hat. Sie erklärt dies damit, dass die Partei in der schwierigen Übergangsphase zu früh die Macht übernommen und Fehler gemacht habe. Dafür würde sie nun von den Wählern abgestraft.

Rachid Ghannouchi; Foto: picture-alliance/dpa
Politischer Denkzettel für Rachid Ghannouchi: Die Ennahda war bisher die dominierende Kraft in der im Oktober 2011 gebildeten Verfassungsgebenden Versammlung, verlor zuletzt jedoch an Rückhalt in der Bevölkerung..

Die wirtschaftliche Lage hat sich in der Tat eher verschlechtert als verbessert, politische Morde an den beiden Oppositionspolitikern Mohamed Brahmi und Chokri Belaid, aber auch die diffuse Beziehung zu radikalen Salafisten und die Zunahme terroristischer Aktivitäten werden mit der Ennahda-Regierungszeit in Verbindung gebracht. Doch trotz allem bleibt sie immerhin die zweitstärkste politische Kraft im Land und verfolgt ihre Machtperspektive weiter.

Die Beteiligung an der Wahl, die vom 24. bis zum 26. Oktober 2014 in insgesamt 11.000 Wahlbüros stattfand, war mit 69 Prozent höher als erwartet. Trotzdem haben vor allem aus der jungen Generation viele aus Enttäuschung, Politikverdrossenheit oder Desinteresse nicht gewählt.

Das Wahlverhalten gestaltete sich aber auch regional sehr unterschiedlich: So war die Wahlbeteiligung in den urbaneren und wohlhabenderen Regionen im Norden und an der Ostküste vergleichsweise hoch, während die Beteiligung in den benachteiligten und ärmeren Regionen im Süden und im Westen eher niedrig ausfiel.

Friedlicher und fairer Wahlverlauf

Der Verlauf der Wahlen gestaltete sich insgesamt friedlich, fair und frei, obwohl mit Anschlägen gerechnet wurde und die Sicherheitsvorkehrungen (Polizei- und Armee- Präsenz) dementsprechend groß war. Abgesehen von wenigen Ausnahmen kam es zu keinen Unregelmäßigkeiten, was sowohl von der unabhängigen Wahlkommission ISIE als auch von der Medienaufsichtsbehörde HAICA bestätigt wurde. Zudem hatte es eine internationale Wahlbeobachtermission der EU gegeben.

Wahllokal in Tunesien; Foto: DW
Lackmustest für die junge tunesische Demokratie: Die Beteiligung an der Wahl, die vom 24. bis zum 26. Oktober 2014 in insgesamt 11.000 Wahlbüros stattfand, war mit 69 Prozent höher als erwartet. Trotzdem haben vor allem aus der jungen Generation viele aus Enttäuschung, Politikverdrossenheit oder Desinteresse nicht gewählt.

Im Vorfeld der Wahlen galt eine Koalition zwischen Nidaa Tounes und Ennahda als wahrscheinlich. Mit ihrem Wahlerfolg im Rücken hält sich jetzt die Führung der Nidaa Tounes alle Optionen offen. Für die Regierungsbildung ist die absolute Mehrheit von 109 der 217 Abgeordneten erforderlich. Nidaa Tounes wird nun mit den Koalitionsverhandlungen und der Regierungsbildung betraut sein, doch eine endgültige Entscheidung wird voraussichtlich erst nach den Präsidentschaftswahlen am 23. November 2014 fallen.

Eine Koalition mit der Front Populaire, mit der große Divergenzen im Hinblick auf wirtschafts- und sozialpolitische Themen bestehen, und der UPL erscheinen momentan unwahrscheinlich. Die Option einer „demokratischen Front“ aus Nidaa Tounes, Afek Tounes sowie weiteren kleineren Parteien und Unabhängigen birgt die Gefahr einer inneren Zerreißprobe, bei der zu viele Akteure unterschiedlicher Couleur beteiligt sind.

Der "Nationale Dialog" auf dem Prüfstand

Unabhängig vom Ausgang der Koalitionsfrage wird als möglicher Regierungschef bereits jetzt der Generalsekretär von Nidaa Tounes, Taieb Baccouche, gehandelt. Abgesehen von der Frage der Regierungsbeteiligung kommt den kleineren Oppositionsparteien und der Zivilgesellschaft weiterhin eine wichtige Rolle zu. Wird der "Nationale Dialog" weiter existieren? Nicht zuletzt ist es dem Nationalen Dialog (UGTT u.a.) zu verdanken, dass die politische Krise 2013 überwunden werden konnte. Den Gewerkschaftern schwebt eine Institutionalisierung des nationalen Dialogs in Form eines Forums zur Konsensfindung vor. Es erscheint allerdings fraglich, ob dies auch realistisch ist.

Der Wahlsieg von Nidaa Tounes bedeutet zwar zwei Schritte vorwärts im Transitionsprozess (faire und freie Wahlen auf der Grundlage der neuen Verfassung sowie einen demokratischen Wechsel der Regierungsparteien), aber auch einen Schritt zurück – in Richtung des alten Regimes. Denn Béji Caid Essebsi (87) verkörpert die Vaterfigur, die "schon alles wieder richten" wird.

Béji Caid Essebsi; Foto: dpa/picture-alliance
Die Rückkehr der alten Mächte: "Der Wahlsieg von Nidaa Tounes bedeutet zwar zwei Schritte vorwärts im Transitionsprozess, aber auch einen Schritt zurück – in Richtung des alten Regimes. Denn Béji Caid Essebsi (87) verkörpert die Vaterfigur, die 'schon alles wieder richten' wird", moniert Schäfer.

Bereits an der Seite Bourguibas war er in der Politik aktiv, auch in der RCD-Partei unter Ben Ali und zuletzt als einer der Übergangspremierminister nach der Revolution 2011. Mit seinem väterlichen Diskurs spricht Essebsi, der Nidaa Tounes 2012 gegründet hat, viele Tunesier an, die durch die ungewissen Umbruchzeiten verunsichert sind. Nun hat er sogar gute Chancen, die Präsidentschaftswahlen Ende des Jahres zu gewinnen.

Bedeutet dieses Wahlergebnis womöglich sogar einen Rückfall in die Zeit vor der tunesischen Revolution, nur eben anders als in Ägypten, zumal der Sicherheitssektor in Tunesien seit 2011 nicht grundlegend reformiert wurde?

Insgesamt sind Verlauf und Ergebnis der Wahlen für die weitere Entwicklung der politischen Lage in Tunesien jedoch eher vielversprechend. Es hat sich eine gewisse "Austarierung" nach dem großen Wahlerfolg der Ennahda 2011 ergeben.

Erleichterung bei den säkularen Eliten

Viele Tunesier – aus der Elite aber auch aus der breiten Mittelschicht – sind glücklich über die Zurückdrängung der Islamisten auf demokratischem Weg, denn sie befürchteten eine weitergehende Islamisierung der Gesellschaft und des politischen Systems.

Wichtige Wirtschaft- und Sozialreformen stehen an. Die besonders drängende Jugendarbeitslosigkeit ist seit 2011 nicht zurückgegangen. Protestpotential in verschiedenen Wirtschaftsbereichen und im öffentlichen Dienst ist vorhanden, was auch in jüngster Zeit Streiks in unterschiedlichen Branchen deutlich gemacht haben.

Doch neben den sozio-ökonomischen Problemen ist Tunesien auch weiterhin von Sicherheitsproblemen (Auswirkungen des Libyenkonflikts, gewalttätige Extremisten an der Grenze zu Algerien, radikalisierte Heimkehrer aus Syrien etc.) geplagt.

Als nächste Etappe stehen nun die Präsidentschaftswahlen im November (Erste Runde) und Dezember (Zweite Runde) 2014 an. Tunesien hat einen weiteren Meilenstein des demokratischen und friedlichen Transitionsprozesses hinter sich gelassen und kann zunächst optimistisch in die Zukunft blicken.

Isabel Schäfer

© Qantara.de 2014

Die Autorin ist Politikwissenschaftlerin und Dozentin an der Humboldt-Universität zu Berlin.