Der Islam bezeichnet Glauben und Identität

Zwei Jahre lang hat die Soziologin Jytte Klausen an einer Studie über die politische Elite der europäischen Muslime gearbeitet. In einem Interview äußert sie sich über Wahrnehmung und Akzeptanz von Muslimen in Europa.

Foto: Café Babel 2004
Jytte Klausen

​​Jytte Klausen forscht an der Amerikanischen Akademie in Berlin und ist Professorin an der Brandeis University. Während ihrer Studie über die muslimische politische Elite hat sie 250 muslimische Parlamentarier, Stadträte und Vereinsvorsitzende aus sechs Ländern befragt: Schweden, Dänemark, Niederlande, Großbritannien, Frankreich und Deutschland.

Werden die Leute, die sie befragt haben, als Muslime bezeichnet oder sehen sich selbst als solche?

Jytte Klausen: Ich persönlich gehe mit dem Begriff "Muslim" so um, wie man in den USA über Juden spricht: Er beschreibt sowohl den Glauben als auch die Identität. In meiner Studie sagten vier von fünf Leuten, dass der Islam für sie persönlich entweder sehr wichtig oder wichtig sei. Doch selbst diejenigen, denen der Islam persönlich nicht so wichtig war, akzeptierten dieses Etikett um zu beschreiben, wer sie sie sind. Ein Abgeordneter sagte mir: "Eigentlich habe ich früher nie viel über meine Religion nachgedacht. Aber jetzt, wo alle über 'Die Muslime' reden, will ich aufstehen und sagen: 'Ich bin auch einer von ihnen'. Der rassistische Umgang mit dem Begriff 'muslimisch' im öffentlichen Diskurs hat dazu geführt, dass die europäischen Muslime näher zusammen rücken, gleich welchen persönlichen Glaubens und gleich welcher Herkunft. Selbst Ayaan Hirsi Ali, die, zusammen mit dem ermordeten Filmmacher Theo van Gogh den provokanten Zehn-Minuten-Filmbeitrag geschrieben hat, bezeichnet sich selbst als eine 'Ex-Muslimin, Muslimin'."

Wie denkt die muslimische Elite über die Situation der Muslime in den europäischen Gesellschaften? War der 11. September 2001 eine Art Wendepunkt?

Klausen: Die Muslime in politischen Führungspositionen, mit denen ich gesprochen habe, waren sich einig, dass die Gesellschaft ein verzerrtes Bild von Muslimen hat und sie diskriminiert. Und selbst sehr gut integrierte Personen des öffentlichen Lebens fühlen das. Der 11. September hat dabei nur einen Prozess beschleunigt, der schon in der Entwicklung war.

Pim Fortuyn hatte schon vor diesem Datum gemeint, dass die Muslime eine Gefahr für die holländische Identität seien. Dieses Ereignis erlaubte also nur die öffentliche Diskussion über eine Kluft zwischen den Christen und Muslimen. Dennoch führten viele Muslime Ereignisse in ihrem Land als den entscheidenden Wendepunkt an, der von einer legitimen Diskussion über Integrationsprobleme zu einer Hysterie führte.

In Schweden war es der 'Ehrenmord' einer jungen muslimischen Frau durch ihren Vater, welche die Schweden veranlasste, auf einmal in jeder muslimischen Frau ein williges oder unfreiwilliges Opfer des Islam zu sehen und das Kopftuch als scheinbar untrüglichen Beweis der Unterdrückung.

In Großbritannien war es die Affäre um Salman Rushdie 1989, durch die die Briten plötzlich glaubten, dass alle Muslime antidemokratisch seien. Dabei bleibt zu beachten, dass viele britische Muslime heute sagen, dass die Anti-Rushdie-Proteste und Buchverbrennungen ein 'großer Fehler' waren und dass sie daraus gelernt hätten. "Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist etwas Gutes", meinte mir gegenüber ein britischer Imam, "es schützt uns vor denen, die uns hassen."

Haben Sie - was die Wahrnehmung der Diskriminierung angeht - große Unterschiede zwischen den verschiedenen Ländern festgestellt?

Klausen: Anhand der Fragen, die ich benutzt habe, um die Unzufriedenheit unter den Befragten zu messen, fand ich heraus, dass die Dinge in Schweden und Großbritannien am besten stehen und das es am schlimmsten in den Niederlanden, in Dänemark und in Deutschland ist.

Ich habe meine Antworten aus Frankreich noch nicht codiert, aber von meinen mündlichen Gesprächen kann ich schließen, dass dort ein gravierender Mangel an einer Integration in der Führungsschicht der Gesellschaft besteht. Im September wurden zwei muslimische Frauen in den Senat gewählt. Sie sind jedoch die ersten, die es so weit gebracht haben. Dies ist besonders bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass es in Frankreich 4 bis 5 Millionen Muslime gibt, von denen viele (die genaue Zahl ist nicht bekannt) die französische Staatsbürgerschaft haben. Der Grund dafür liegt darin, dass sich die politischen Parteien weigern, Muslime auf ihre Wahlliste zu setzen, es sei denn, sie schwören dem Islam ab.

Welche Beziehung besteht zwischen der "muslimischen Elite" und anderen Muslimen in den Europäischen Gesellschaften?

Klausen: Muslimische Parlamentarier und Stadträte werden von den Muslimen nicht gewählt, sondern größtenteils von nichtmuslimischen Wählern. Sie denken auch nicht, dass es ihre Hauptaufgabe ist, Muslime zu repräsentieren. Dabei haben die politischen Parteien ja angefangen, Muslime und andere Immigranten in solchen Wahlkreisen auf die Liste zu setzen, in denen viele Bürger mit Migrationshintergrund wohnen. Ein großes Problem ist, dass Integration und Diskriminierung, speziell von Muslimen, zu einem 'heißen Eisen' der europäischen Politik geworden ist: Finger weg, oder du verbrennst dich. Die Integration der Muslime ist daher ein Thema, das dringend politische Führung und neue Ansätze braucht. Muslimische Führungspersonen in den etablierten Parteien und Institutionen sind eigentliche gute Kandidaten für diese Rolle. Wenn sie diese aber übernehmen, nehmen sie politisch gesehen ein großes Risiko auf sich.

Junge Muslime, die in Europa geboren sind, sollten eigentlich besser als ihre Eltern dafür ausgerüstet sein, sich politisch zu engagieren. Sind sie in der muslimischen Elite gut vertreten?

Klausen: Ein überraschendes Ergebnis meiner Studie war, dass drei Viertel der muslimischen, führenden Politiker von heute Immigranten der ersten Generation sind. Es wird ja meist geglaubt, dass die derzeitigen Politiker erfolgreiche Produkte des europäischen Wohlfahrtstaats und dessen öffentlicher Erziehung sind. Dem ist aber nicht so. Die meisten waren schon politisch aktiv, bevor sie nach Europa kamen. Viele sind politische Flüchtlinge, die verhaftet oder gezwungen wurden, ihr Land wegen ihres Engagements zu verlassen. Viele kamen als junge Erwachsene und hatten schon vor ihrer Ankunft eine höhere Bildung erhalten. Sie kommen aus der Mittelschicht und ihre politischen Aktivitäten spiegeln eine Fortsetzung und das Nutzen ihrer Erfahrung wider.

Was wünscht sich die muslimische politische Elite von den europäischen Gesellschaften und Regierungen?

Klausen: Die wichtigsten Themen waren die Integration des Islams in Europa und die religiöse Diskriminierung. Führende Muslime wollen Glaubensinstitute in Europa errichten und Imame an den theologischen Fakultäten öffentlicher Universitäten ausbilden, so wie christliche Geistliche. Dann könnten sie Imame einstellen, die Holländisch, Dänisch oder Deutsch sprechen. Sie wollen auch Moscheen bauen und Friedhöfe einrichten, so dass verstorbene Familienangehörige in der Nähe ihrer Familien beerdigt werden können und nicht für die Beerdigung in ihr Herkunftsland transportiert werden müssen, zu denen immer weniger Leute Bindungen haben.

Interview: Clémence Delmas

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