Von wegen göttliche Ruhe

Wird man in Europa wegen des Terrors Muslime ausgrenzen? Diese Frage stellt sich der Publizist und Iran-Kenner Navid Kermani angesichts der Terroranschläge von Madrid.

Navid Kermani, Foto: L. Bender
Navid Kermani

​​Man mache sich nichts vor: Wenn der Terrorismus von Muslimen sich in Europa ausbreiten sollte und die Menschen hier reale Angst haben, in einen Zug zu steigen, ihre Kinder allein auf den Weg zur Schule zu schicken oder sich zu einem Popkonzert zu versammeln, werden wir sehr schnell merken, dass der Boden der Toleranz, auf dem sich Minderheiten in Europa sicherer bewegen als je in der europäischen Geschichte, sehr dünn ist.

Die Reaktion auf den Terror könnte in Europa – vielleicht nicht in der Politik aller europäischer Staaten, aber sehr wohl in der Bevölkerung – härter und irrationaler ausfallen als in den Vereinigten Staaten, die den Identitätswahn deshalb nicht überwunden haben, weil sie ihn als Einwanderungsland niemals in vergleichbarer Form kannten.

Gerade weil Europas sittliche Ansprüche in der Folge der Aufklärung so immens hoch sind, können sie umso tiefer fallen. Das hat der christlich begründete Krieg der Serben gegen die Muslime, dreihundert Kilometer südlich von München geführt, erst vor einigen Jahren in Erinnerung gerufen.

Der Terror kann jeden treffen

Das ist keine Frage der Statistik. Selbst in Israel, in dessen Gegenwart sich ein Schreckbild europäischer Zukunft spiegeln könnte, ist es trotz der beinah wöchentlichen Anschläge immer noch ungleich wahrscheinlicher, durch Krebs oder einen Autounfall zu sterben als durch eine Bombe.

Dennoch ist er in die Realität einer jeden Mutter, eines jeden Busfahrers eingedrungen. Der Terror, der vergangene Woche – allen Vorhersagen gemäß und, einmal entfesselt, unaufhaltsam für jede noch so kluge Politik – Europa erreicht zu haben scheint, muss sich mit Krankheiten, Umweltkatastrophen oder Unfällen nicht messen, es geht ihm nicht um Zahlen; ihm genügt die Möglichkeit, jederzeit jeden treffen zu können, um das Denken zu paralysieren.

Wir und sie

Hat sich die Angst einmal eingenistet in den Gehirnen, werden mit Besonnenheit und Rationalität kaum noch Wahlen zu gewinnen sein. Wenn Muslime Täter sind, wird der Hinweis nichts nutzen, dass sie wahllos auch Muslime umbringen, ihre Opfer also nicht nach Religion trennen. Man wird selbst beginnen, Nachbarn, Einwanderer und Staaten nach Religionen zu trennen in ein "wir" und ein "sie". Schon weil sie Muslime sind, werden sie in dem europäischen "wir" keinen angemessenen Platz mehr finden.

Die im Augenblick noch offene Frage, ob der Islam zu Europa gehört, die sich in Deutschland am Beispiel des Staatsbürgerrechts, des Kopftuchs oder des Beitritts der Türkei zur Europäischen Union entzündet, wird sich nicht jetzt schon, nach dem ersten großen Anschlag zuungunsten derjenigen entscheiden, die dem gleichen Kollektiv angehören wie die Täter. Aber sicher auch nicht erst nach dem zehnten Anschlag.

Koranexemplar als Indiz

Als stärkstes Indiz dafür, dass die Anschläge einen islamistischen Hintergrund haben, wurde eine Kassette mit Koranversen genannt, die zusammen mit sieben Zündern und Resten von Sprengstoff in einem Kleinlaster gefunden worden ist. Die Mörder haben auf der Fahrt den Koran gehört. Vielleicht haben sie die Kassette auch nicht gehört, sondern sie als einziges Deutungsmittel den Ermittlern und der Weltöffentlichkeit bewusst hinterlassen. Keine Erklärung, keine Begründung, nur der Koran.

Ich kann mit den Schultern zucken, wenn in Deutschland jeder dahergelaufene Autor nach der Lektüre eines Zeitungsartikels oder, wenn’s hochkommt, einer der einschlägigen Expertenwarnungen à la Bassam Tibi meint, eine Fatwa abgeben zu können über den Glauben meiner Großeltern, die sich in ihrer Toleranz nicht dem Geist der westlichen Aufklärung und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verpflichtet fühlten, sondern dem größten Geist, dem des Allmächtigen.

Die vier oder fünf Koranverse über die Ungläubigen und die Frauen, die in der Liste der häufigsten Zitate in deutschen Leserbriefen ganz oben stehen, lassen mich kalt. Es kostet mich drei Gedankengänge, um mich des Skandalösen darin argumentativ zu entledigen. Aber ich kann die Korankassette in dem Kleinlaster nicht ignorieren.

Es gibt einen Islam, der sich als Feind geriert

Fast alle Muslime hierzulande und die meisten Islamwissenschaftler ärgern sich über das verzerrte Bild, das die Medien vom Islam zeichnen. Aber dieses Bild wäre niemals so sehr in den Vordergrund gerückt, wenn nicht genug Muslime – Terroristen, Theologen, Staatsführer – exakt jener Karikatur des Islams entsprächen, die den Gläubigen und Kennern aufstößt. Es mag ein Feindbild Islam geben. Aber schlimmer ist, dass es einen Islam gibt, der sich als Feind geriert.

Gern hätte ich gewusst, welchen Koransänger die Mörder gehört haben. Einen der besonders melodischen Rezitatoren, die in der arabischen Welt so populär sind wie im Westen sonst nur Popstars, werden sie kaum in ihren Kleinlaster gelassen haben. Dem puritanischen oder wahhabitischen Islam, dem die Mörder angehören dürften, gelten solche künstlerischen Interpretationen des Gottesworts als Ketzerei.

Aber es heißt in der islamischen Tradition, dass, wo immer der Koran rezitiert werde, sich eine göttliche Ruhe über die Anwesenden lege, eine sakina, verwandt der jüdischen schechina. Das müsste auch für die Koranrezitation der Wahhabiten gelten. Kein Geringerer als Gott wird sich die Frage stellen lassen müssen, wo Seine Ruhe geblieben ist.

Navid Kermani

Erschienen in der Süddeutschen Zeitung vom 15. März 2004

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