"Wir können nichts dafür!"

Nach dem Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt in Berlin machen sich Muslime bereit für die nächste Runde Schuldzuweisungen. Auch wenn der Hintergrund der Tat in Berlin noch offen ist, weiß man: Jetzt geht's wieder los. Von Dunja Ramadan

Von Dunja Ramadan

Am Montag Abend hatten wir alle etwas gemeinsam. Wir hatten die gleichen brennenden Fragen im Kopf. Ist es ein Terroranschlag? Ist der Täter ein Flüchtling? Ein Muslim? Also ein islamistischer Terrorakt?

Und schon endet der kurze gemeinsame Moment. Denn die Art, wie wir mit diesen Fragen umgehen, unterscheidet uns voneinander. Während die einen noch damit beschäftigt waren, zu hoffen, dass es kein islamistischer Anschlag war, erlaubten sich andere schon längst Antworten auf diese Fragen.

Vor allem Muslime hierzulande machen sich innerlich wieder bereit für eine nächste Runde Schuldzuweisungen. Dabei ist bis dato weder geklärt, ob die Tat einen islamistischen Hintergrund hat, noch ob der Täter ein Flüchtling ist. Aber AfD und CSU machen einfach schon mal präventiv Merkels Flüchtlingspolitik verantwortlich. Wie können Menschen ernsthaft glauben, dass Terrorismus eine Regelmäßigkeit hat, ein Muster, das nur bestimmte Tätergruppen kennt? Wie können Menschen ernsthaft über die Flüchtlinge oder die Muslime sprechen?

Diagnose Hass

Ein Abend wie am 19. Dezember zeigt, dass Terror viele Deckmäntel hat. Ankara: Ein Bewaffneter tötet den russischen Botschafter. Tatmotiv? Höchstwahrscheinlich Hass. Zürich: Ein Bewaffneter schießt in einem muslimischen Gebetsraum um sich, drei Männer werden schwer verletzt. Tatmotiv? Höchstwahrscheinlich Hass. Berlin: Ein LKW rast in einen Weihnachtsmarkt, 12 Tote, viele Verletzte. Tatmotiv? Höchstwahrscheinlich Hass.

Und wie reagieren viele Menschen darauf? Mit Hass. Ob aus Fremdenhass, Fanatismus oder Menschenhass. Ist das nicht absurd? Ist das nicht total krank?

Terror will vor allem eins: Angst und Schrecken verbreiten. Die Gesellschaft spalten, Hass säen. Aber Terroranschläge werden nie Antworten auf komplexe Fragen geben. Sie werden immer schrecklich, sinnlos und hinterhältig sein. Sie werden nie die Komplexität von uns Menschen erklären.

Merkez-Moschee; Foto: dpa
Feindbild Islam: "In diesem Land haben mittlerweile viele Menschen Angst, für jemanden gehalten zu werden, der sie nicht sind und nie sein werden. Flüchtlinge, die erzählen, dass sie nicht als Menschen, sondern als Unruhestifter wahrgenommen werden. Musliminnen, die Angst haben, mit Kopftuch auf die Straße zu gehen oder in der U-Bahn vor ihren Kindern beschimpft zu werden", schreibt Dunja Ramadan.

Als im Sommer in München ein Amokläufer auf Wehrlose schoss, kam sofort der Gedanke, dass es ein islamistischer Anschlag sein könnte. Als bekannt wurde, dass der Täter iranischer Abstammung war, war für viele die Sache klar. Iran? Muslimisches Land. Aha. War ja klar. Dann mal los, liebe Muslime: Ihr müsst den Anschlag doch besonders verurteilen, immerhin ist er ein Glaubensbruder und handelt im Namen der Religion. Manche Menschen hören nur die Staatsangehörigkeit oder Religionszugehörigkeit eines Täters, und schon laufen die Schuldzuweisungen gebetsmühlenartig ab. Sie haben ihre Antworten schon längst gefunden.

Doch die Tat hatte einen rechtsextremen Hintergrund. Der Täter verehrte Hitler und Breivik und bezeichnete sich als Arier. Er war Iraner und Rechtsextremist – für viele eine Überforderung. Er tötete neun Menschen, ein Großteil davon hatte einen Migrationshintergrund. Terror hat viele Gesichter. Terror liefert keine Antworten. Terror lässt unseren Alltag aus den Fugen geraten. Aber es liegt an uns, diesen Alltag zu schützen. Kein fanatischer Terrorist und kein hämischer Populist sollte es schaffen, unser Miteinander zu vergiften.

Angst vor Generalverdacht

Liest man hunderte Tweets oder Facebook-Kommentare, stößt man immer auf dieselben Meinungen: Die einen beschimpfen Angela Merkel, Flüchtlinge und Muslime, die anderen warnen vor Verallgemeinerung, Spaltung und Hetze. Und da gibt es noch die Stimmen, die sich Sorgen um ihre Zukunft in Deutschland machen.

In diesem Land haben mittlerweile viele Menschen Angst, für jemanden gehalten zu werden, der sie nicht sind und nie sein werden. Flüchtlinge, die erzählen, dass sie nicht als Menschen, sondern als Unruhestifter wahrgenommen werden. Musliminnen, die Angst haben, mit Kopftuch auf die Straße zu gehen oder in der U-Bahn vor ihren Kindern beschimpft zu werden.

Dabei empfinden auch sie Trauer, Wut und Angst. Sie haben nicht das sofortige Bedürfnis zu schreien: "Wir können nichts dafür!" Aus dem einfachen Grund, weil die meisten wirklich nichts dafür können. Während viele Muslime hierzulande schon seit Jahrzehnten im deutschen "Wir"-Gefühl zu Hause sind, verlangt die Mehrheit auf einmal, dass man sich wieder löst und sich von Terroristen distanziert. Dabei ist für die meisten längst klar: Einer für alle und alle für einen. Warum braucht die Mehrheitsgesellschaft noch eine Bestätigung?

Vor lauter Fragen und Sorgen bleibt vor allem ein Gefühl auf der Strecke: Ehrlich empfundene Trauer. Trauer um Menschen, die kurz vor Weihnachten ihre Familienangehörigen, Freunde oder Partner verloren haben. Um Menschen, die nach ihrem Feierabend einfach nur ein paar schöne Stunden verbringen wollten, bevor sie am nächsten Tag wieder zur Arbeit gehen. Würden wir gemeinsam um die Opfer trauern, hätte der Terror bereits verloren. Warum hat niemand mehr Zeit zum Innehalten? Wir sollten gemeinsam trauern.

Dunja Ramadan

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