Ein Geist, der Ost und West umfasst

Auf Muhammad Iqbal, Pakistans geistigen Vater und bedeutenden Philosophen des 20. Jahrhunderts, berufen sich bis heute Aktivisten verschiedener politischer Couleur, sodass er wohl auch für die Zukunft des Landes eine wichtige Rolle spielen wird. Stephan Popp stellt den Denker vor.

Von Stephan Popp

Unter den Personen, die Pakistan zu seinen Gründervätern zählt, befindet sich auch ein Dichter: Muhammad Iqbal (1877–1938). Das ist nicht verwunderlich, denn in ganz Asien gilt das Gedicht als unmittelbarer Ausdruck der Bildung eines Menschen. Individualität, freie Persönlichkeitsentfaltung und Leidenschaft für das Wohl aller sah er als Grundlage des Islam und war dabei in Kants, Hegels, Nietzsches und Bergsons Werk bewandert wie kein anderer islamischer Denker. Dies alles goss er in Verse, wurde so zum islamischen Gegenstück zu Tagore und nach seinem Tod zum Nationaldichter Pakistans. Seine Philosophie ist Schulfach in Pakistan, und viele Tageszeitungen im Lande haben eine tägliche Kolumne mit seinen Versen.

Muhammad Iqbal wurde in Sialkot geboren, einer Stadt unweit vom damaligen Fürstentum Kaschmir, die heute vor allem für ihre Fußballproduktion bekannt ist. Seine Eltern waren sehr fromm und hingen einer pantheistischen islamischen Mystik an, die Iqbal zunächst übernehmen und später energisch bekämpfen sollte. Ein frommer Muslim blieb er jedoch zeitlebens.

Prägendes deutsches Ideengut

Schon in der Schule lernte Iqbal die englischen Romantiker kennen, in deren Stil er seine ersten Gedichte verfasste. Wie damals üblich, wurde er mit 18 Jahren verheiratet und begann danach sein Studium in Lahore, der Hauptstadt des Punjab, damals eine multikulturelle Stadt mit hauchdünner islamischer Mehrheit. Ihr kulturelles Leben war berühmt, und Modernisierungsideen und Nationalromantik wurden heftig diskutiert. Auch Muhammad Iqbal nahm an Dichterlesungen teil, und seine ersten Gedichte auf Urdu erschienen regelmäßig ab 1901. Diese sind vor allem romantisch, später auch nationalromantisch geprägt, wie die indische Hymne, die heute am indischen Nationalfeiertag gesungen wird. Dazu kommen noch die allerersten Kindergedichte der Urdu-Literatur. 1905 ging Iqbal nach Cambridge, wo er bei dem Neuhegelianer John McTaggart Philosophie und außerdem Recht studierte. Da er Hegel auf Deutsch lesen sollte, ging er 1907 nach Heidelberg und verliebte sich dort in seine Deutschlehrerin, Emma Wegenast, die ihn mit Goethes "Faust", Heine und Nietzsche vertraut machte. Eine Zukunft konnte diese wohl sehr sittsame Beziehung damals nicht haben, aber Iqbals ausgeprägt wilhelminische Sicht der deutschen Kultur ist stark von Emma beeinflusst. Iqbal promovierte schließlich in München über "Die Entwicklung der Philosophie in Iran" und kehrte 1908 nach Lahore zurück.

Fortschritt und Ethik

Dort begann er wieder an der Universität zu unterrichten und wurde zusätzlich Anwalt. Privat fiel er in eine schwere Sinnkrise. Eine Folge davon war, dass Iqbal zu einer eigenen, von Goethe, Hegel und Nietzsche beeinflussten Interpretation des Islam fand, in der Selbstverwirklichung und das Ideal des faustischen Menschen als der Kern des Islam gelten. Seine Lehrgedichte aus jener Zeit, "Klage und Antwort" (1912) auf Urdu und "Die Geheimnisse des Selbst" (1915) auf Persisch, machen dies deutlich. Traditionellere Kreise hielten beide für gottlos, und der daraus entstehende Skandal machte Iqbal berühmt. Die Verketzerung konnte er durch sein nächstes Werk, "Die Mysterien der Selbstlosigkeit" (1918), abwehren. Der springende Punkt in Iqbals Philosophie der Selbstverwirklichung ist, dass sich nicht nur Individuen, sondern auch Völker selbst verwirklichen können, wodurch im Fall Britisch-Indiens die Kolonialherrschaft überflüssig wird. Denn die koloniale Ideologie beanspruchte, den "emotionalen" Indern rationale Wissenschaft und Technik zu bringen. Iqbal drehte diese Behauptung um, indem er erklärte, Werte seien nur emotional begründbar und dem Westen drohe der Untergang, wenn er nicht lerne, sich wie der Islam für Werte zu begeistern. Die Passion für moralischen Fortschritt im Sinn einer umfassenden Selbstverwirklichung nennt Iqbal "Liebe", die Heimat dieser Geisteshaltung war für ihn der Orient. Diese Auffassung wird in Pakistan auch heute noch oft vertreten. Iqbal wurde in den Jahren der Krise nicht nur zum islamischen Modernisten, sondern auch zum Panislamisten. Da er in Europa sah, dass Nationalismus zu Kriegstreiberei führte, fand er eine alle Menschen einende, zu "Liebe", Moralität und Selbstverwirklichung führende Kraft im Islam.

Die nächsten Gedichtbände sind 1923 die "Botschaft des Ostens" (deutsch von Annemarie Schimmel), eine Antwort auf Goethes "West-Östlichen Diwan", und eine Sammlung seiner Urdu-Gedichte, "Der Klang der Karawanenglocke", 1924 (deutsch in Auszügen in "Steppe im Staubkorn" von J. Christoph Bürgel). In den nächsten Jahren ging Iqbal in die Politik und stellte 1928/29 seine Philosophie in den "Sechs Vorträgen zur Wiederherstellung des religiösen Denkens im Islam" dar. Zur Eröffnung des Jahrestreffens seiner Partei hielt er 1930 eine Rede, die in Pakistan rückblickend als die Geburtsstunde der Pakistan-Idee verstanden wird. Darin forderte er, die mehrheitlich islamischen Gebiete im Westen Indiens zu einer einzigen Provinz zusammenzuschließen. Ob dies innerhalb oder außerhalb Indiens geschehen soll, ließ er offen. Er hätte die Schaffung Pakistans wohl begrüßt, wäre aber – wie so viele – sehr bald vom Regionalismus und vom mangelnden Willen zur Modernisierung enttäuscht worden.

Ein Dichter für die Zukunft

1931 und 1932 nahm Iqbal an den Konferenzen zur Zukunft Indiens in London teil und bereiste nochmals Europa. Danach publizierte er ein Epos, das "Buch der Ewigkeit" (deutsch von Annemarie Schimmel), das einen guten Zugang zu seinem Denken bietet. Darin diskutiert Iqbal auf einer imaginären Himmelsreise mit verstorbenen Dichtern, Denkern und Politikern. Außerdem wurde er 1933 zum Mitbegründer der Universität Kabul. 1934 folgte eine weitere Gedichtsammlung auf Urdu, "Gabriels Schwingen", aus der hier ein typischer Vierzeiler zitiert sei: "In jedem Funken ist das Herz verborgen / Wo es erscheint, ist auch das Herz bereit, / Gefesselt zwar an Gestern und an Morgen, / Und doch nicht Sklave, nicht im Zwang der Zeit."

Iqbals Gesundheit begann sich jedoch damals schon zu verschlechtern, und er verstarb am 20. April 1938. Iqbals Bedeutung für Pakistan, aber auch Afghanistan ist kaum zu unterschätzen. Alle, von den Taliban bis zu Feministinnen, zitieren ihn, und seine Forderung nach Selbstverwirklichung ist weiterhin eine Aufgabe für Pakistan. Gerade Aktivisten für Demokratie berufen sich auf ihn, so dass er für die Zukunft Pakistans weiter eine wichtige Rolle spielen wird.

Stephan Popp

© Qantara.de 2010

Stephan Popp ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Iranistik der Universität Bamberg; 2007 erschien seine Studie "Muhammad Iqbal, ein Philosoph zwischen den Kulturen".