Ein jüdischer Lawrence von Arabien

Leopold Weiss alias Muhammad Asad war ein Grenzgänger zwischen der islamischen Welt und dem Westen, ein bedeutender islamischer Denker, Politiker und Publizist. Nun ist seine Lebensgeschichte neu aufgelegt worden. Von Lewis Gropp

Von Lewis Gropp

​Geboren in einer Rabbinerfamilie im k. u. k. Österreich, wurde er zu einem wichtigen islamischen Denker des 20. Jahrhunderts. Muhammad Asad war ein Grenzgänger zwischen der islamischen Welt und dem Westen: Weltreisender, Journalist, Linguist, Übersetzer, Sozialkritiker, Reformist, Diplomat, Politologe, Theologe. Heute ist er Bezugspunkt für eine tolerante und zeitgemäße Auslegung des Glaubens. Die Biografie von Muhammad Asad liest sich wie ein Roman von Alexandre Dumas. Es ist eine orientalische Saga voll von schier unglaublichen Abenteuern. Alles beginnt im galizischen Lemberg.

Hier kommt Muhammad Asad am 2. Juli 1900 als Leopold Weiss zur Welt. Theologie und Philosophie interessieren den Heranwachsenden aber zunächst wenig. "Tat und Bewegung und Abenteuer" sind seine Triebfeder. Im Alter von vierzehn Jahren nimmt er Reißaus und meldet sich in der Steiermark unter falschem Namen zur Armee. Gerade noch rechtzeitig können ihn seine Eltern vor dem Ausflug ins Schlachtfeld bewahren.

Sigmund Freuds "starker Wein"

Nach seinem Schulabschluss geht Leopold Weiss zum Studium der Psychoanalyse nach Wien. "In der Tat berauschten die Freudschen Ideen meinen jungen Geist wie starker Wein", schreibt Weiss. Er verbringt zahllose Abende in den Kaffeehäusern der Stadt, wo er mit angehaltenem Atem den Diskussionen von Alfred Adler und anderen Geistesgrößen lauscht.

Historische Fotografie von Muhammad Asad auf einer Wüstenreise mit dem Kamel
"Stille, stolze Bejahung der Wirklichkeit und des eigenen Lebens": Bei seinem Aufenthalt in Palästina lernt Leopold Weiss die arabische Beduinenkultur kennen und lieben

Doch die "geistige Arroganz" dieser jungen Wissenschaft, die sich anmaßt, den menschlichen Geist ergründen zu können, stößt den jungen Mann ab. Wenig später verschlägt es Weiss nach Berlin, wo er Anfang der zwanziger Jahre unter anderem als Drehbuchautor und als Hilfsregisseur für den expressionistischen Großmeister Friedrich Murnau arbeitet. Hier landet er auch seinen ersten Scoop als Journalist.

Der junge Leopold Weiss ist ein Draufgänger und sinnenfroher Bohémien, der sich mit Dreistigkeit und Wagemut durchs Leben schlägt. Unter der Oberfläche eines bewegten Lebens begleitet ihn jedoch ein stetes "Unbehagen in der Kultur". ​​ 1954 erscheint sein Buch "The Road to Mecca", ein Jahr später die von Weiss selbst erstellte deutsche Fassung (bei S. Fischer), die nun wieder in einer Neuausgabe (bei Patmos) zugänglich ist.

"Der Weg nach Mekka", nach Auskunft des Autors "eine Art Selbstbiografie", beschreibt ein Europa zwischen zwei Weltkriegen, das an seiner "seelischen Leere" leidet und "moralisch labil" ist. "Hinter der Fassade Ordnung und Organisation des Abendlandes herrscht ethisches Chaos", so das Weisssche Verdikt. Wie es der Zufall will, erhält der junge Mann eine Einladung seines Onkels, "eines Schülers von Dr. Freud", der, wie es heißt, "in Jerusalem eine Irrenanstalt leitete". Hier lernt Weiss die arabische Beduinenkultur kennen und lieben. Er beschreibt ihre "freie Menschlichkeit" und ihre "stille, stolze Bejahung der Wirklichkeit und des eigenen Lebens".

Die Araber, so schwärmt er, seien "Menschen, die einander und den einfachen Dingen des Lebens Verehrung entgegenbrachten". Die Leidenschaft ist entfacht, Leopold Weiss konvertiert im April 1927 zum (sunnitischen) Islam, nennt sich von nun an Muhammad Asad; und so reist er durch die ganze arabische Welt, nahezu den gesamten Orient erkundet er.

Vertrauter des Königs Ibn Saud

Leopold Weiss alias Muhammad Asad; Foto: Mischief Films
Eine "wunderbare Religion", die ihre Anhänger nicht verdient: In seinen letzten Lebensjahren kritisiert Muhammad Asad den Zustand der islamischen Welt.

Nebenbei avanciert er zu einem der renommiertesten Nahostkorrespondenten im deutschsprachigen Raum, unter anderem schreibt er für die "Neue Zürcher Zeitung". Für mehrere Jahre lässt sich Asad dann in Saudi-Arabien nieder; hier wird er zum engen Vertrauten und persönlichen Freund von König Ibn Saud. ​​Dann geht er auf Einladung des Philosophen und Politikers Muhammad Iqbal nach Indien, wo er allerdings – als österreichischer Staatsbürger – von den Briten für die Dauer des Zweiten Weltkriegs in ein Internierungslager gesteckt wird.

Schließlich bittet ihn Iqbal, an der Gründung Pakistans mitzuarbeiten; und so geschieht es: Asad beteiligt sich an den Entwürfen für die Verfassung der islamischen Republik. Später geht er als erster Uno-Botschafter Pakistans nach New York.

In seiner zweiten Lebenshälfte widmet Asad sich dem Schreiben und Publizieren. Er wird zu einem der bedeutendsten islamischen Autoren seiner Zeit; er verfasst Bücher und zahlreiche Essays über Weltbild, Recht und Philosophie des Islams. Sein Opus magnum ist eine kommentierte englische Koranübersetzung.

Rationaler Weg zum Glauben

Buchcover Muhammad Asad: Der Weg nach Mekka; Foto: Patmos Verlag
Ein Werk von literarischem Rang: Assads Buch "Der Weg nach Mekka", das erstmals 1955 auf Deutsch erschienen und seit 2009 in einer Neuauflage wieder zugänglich ist.

Gegen Ende seines Lebens ist Asad indessen enttäuscht vom Zustand der islamischen Welt, von ihrer intellektuellen Abschottung und der Intoleranz der Extremisten. Er urteilt, dass "diese wunderbare Religion" ihre Anhänger nicht verdient habe. Seine Schriften werden noch während seiner Zeit in Marokko öffentlich verbrannt; ein Grund für seinen Rückzug nach Europa. 1992 stirbt Muhammad Asad im spanischen Andalusien. ​​ Dass und vor allem auf welche Weise Asad beschreibt, wie er über kritisches, rationales Denken zum Glauben gefunden hat, macht seine Autobiografie zu einer anregenden Lektüre.

Mit dem Plädoyer, dass jede Religion nur dann lebendig bleiben könne, wenn sie frei und eigenständig ihren Platz in ihrer jeweiligen Zeit finde, wird er zu einem Hermeneutiker des Islams. Dabei stellt sich Asad gegen jahrhundertealte Überlieferungen der islamischen Rechtsschulen; er bemüht dagegen die rationalistisch ausgerichtete Tradition der Mutaziliten. Asad zeigt beispielhaft, wie man einen frei gelebten Glauben aus seinen Quellen heraus in der Gegenwart zum Leben erwecken kann. Eine Lektion nicht nur für Muslime.

Ein Werk von literarischem Rang

Neben diesen theologischen und kulturellen Fragen hat "Der Weg nach Mekka" noch sehr viel mehr zu bieten. Denn obwohl sich die Lebensbeschreibung nur bis unmittelbar vor Asads Aufbruch nach Indien erstreckt, könnte man allein aus den bis dahin geschilderten Ereignissen eine Handvoll Abenteuerromane stricken. Das Buch liefert außerdem facettenreiche Einblicke in die Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts: das Berlin der zwanziger Jahre, der Zionismus in Palästina, die Briten in Saudi-Arabien, die Italiener in Libyen, das Ringen der persischen Nation um nationale Unabhängigkeit.

Und immer mittendrin: der "jüdische Lawrence von Arabien", als bettelarmer, sinnsuchender Lebemann, als rasender Reporter, im Gespräch mit den Machthabern im Nahen Osten, als Agent im Feldeinsatz, während die Kugeln über seinen Kopf hinwegzischen. "Der Weg nach Mekka" ist nicht zuletzt ein Werk von hohem literarischem Wert, das es zu entdecken gilt.

Lewis Gropp

© Qantara.de 2010

Muhammad Asad: Der Weg nach Mekka. Patmos 2009, 448 Seiten

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de