Drehscheibe zwischen östlicher und westlicher Welt

Zwei aktuelle Bücher beschäftigen sich mit der Mobilität als Voraussetzung der Moderne in der arabischen Welt im ausgehenden 19. Jahrhundert. Im Mittelpunkt stehen das ägyptische Port Said und der Suez-Kanal. Von Kersten Knipp

Von Kersten Knipp

Eine gottverlassene Gegend. Trocken, staubig und heiß. Ein Ort, an dem nur wenige Menschen siedeln. Die Beduinen, die hier leben, sind auf ständiger Wanderschaft, führen Menschen quer durch die Wüste von dem einen Meer zum anderen.

Doch seit einiger Zeit hält sich auch ein westlicher Vorposten hier, auch wenn er nicht mehr umfasst als "eine von mehreren Zelten umgebene Hütte", wie ein Augenzeuge im April 1859 notiert. Doch dann ziehen immer mehr Menschen dorthin, und so entsteht dort, Schritt für Schritt und über mehrere Jahre, eine neue Stadt: Port Said, der nördliche Eingang zum Suez-Kanal.

Das "Las Vegas Ägyptens"

Port Said, dieses "Las Vegas in Ägypten", wie ein Reisender die künstliche Stadt im späten 19. Jahrhundert nannte, entwickelte sich nach der Fertigstellung des Suezkanals 1869 zum zentralen Knotenpunkt zwischen arabischer und europäischer, östlicher und westlicher Welt.

Die geographische Lage machte den Ort auch zu jenem Nadelöhr, durch das die westliche Zivilisation Einzug in Ägypten hielt, die militärischen, administrativen, politischen und kulturellen Techniken, die das Land am Nil in den folgenden Jahren, insbesondere mit der britischen Herrschaft 1882 für immer prägen und unwiederbringlich in die Moderne treiben sollten. In eine Moderne, die dem Land vielfachen Fortschritt, aber auch vielerlei Probleme brachte.

Die Mobilität als Voraussetzung der Moderne in der arabischen Welt: Dies ist das Thema, dem sich zwei neue Bücher widmen: "Global Muslims in the Age of Steam and Print" heißt der eine, von James L. Gelvin und Nile Green herausgegebene Band, der sich mit den Auswirkungen des Reisens und auch den modernen Kommunikationsmedien der damaligen Zeit auf die politische und kulturelle Entwicklung nahezu der gesamten muslimischen Welt, von Ägypten bis hin nach Südostasien, befasst. "Channeling Mobilities. Migration and Globalisation in the Suez Canal Region and Beyond, 1869 – 1914" ist der Titel des anderen, verfasst von Valeska Huber.

Die Internationalisierung der Kanal-Zone

Akribisch und mit großem dokumentarischem Aufwand skizziert Huber die allmähliche Internationalisierung der Kanal-Zone. Zunächst sind Tausende europäischer Arbeiter, darunter sehr viele Griechen, mit dem Ausheben der Fahrrinne beschäftigt, doch weil sich nicht genügend Männer rekrutieren lassen, verpflichtet der ägyptische Herrscher Mohammed Said 1861 gut 10.000 Arbeiter aus Oberägypten. Ein Jahr später lässt er noch einmal 18.000 weitere Arbeiter kommen.

Freilich treiben den Herrscher auch demographische Sorgen: Zu viele Europäer, fürchtet er, könnten die Kanal-Zone de facto in einen Außenposten Europas verwandeln.

Tatsächlich bleibt der Kanal – vorerst – zwar ägyptisch, entwickelt sich aber zu einer internationalen Zone. "Port-Said ist fast eine Stadt", notierte die französische Orientalistin Narcisse Berchère, die 1861/62 auf Einladung Lesseps einige Monate am Suez-Kanal verbringt. "Man zählt 1.023 Europäer und 1.578 Araber. Es gibt Restaurants, Cafés, Schneider und Kantinen."

Entsprechend breit ist auch die Angebotspalette: "Kodakfilme, Whiskey, Ansichtskarten und andere britische Annehmlichkeiten." Immer mehr Menschen kommen an den Kanal, der mehr und mehr zu einer globalen Drehscheibe wird.

Buchcover „Global Muslims in the Age of Steam and Print“
Das von James L. Gelvin und Nile Green herausgegebene Buch „Global Muslims in the Age of Steam and Print“ befasst sich mit den Auswirkungen des Reisens und auch den modernen Kommunikationsmedien der damaligen Zeit auf die politische und kulturelle Entwicklung nahezu der gesamten muslimischen Welt, von Ägypten bis hin nach Südostasien, befasst.

"Ein unmögliches Arabisch"

"Man sprach schlechtes Italienisch mit den Arabern, noch schlechteres Griechisch mit den Franzosen, und ein unmögliches Arabisch mit den Menschen aus Dalmatien", notiert ein Zeitzeuge. Und es sind nicht nur ehrenwerte Menschen, die es in die Stadt zieht. Port Said, fasst ein englischer Reisender seine Eindrücke zusammen, "ist der Ort, an dem die Sünden aus Ost und West gemeinsames Asyl findet."

Akribisch arbeitet Huber die Folgen des Kanalbaus heraus: die Entwicklung kapitalistischer Marktplätze in den Kanalstädten, allen voran Port Said. Vor allem aber die steigende Mobilität. Der "Highway Of The British Empire", wie der Kanal genannt wird, verkürzt die Strecke zwischen London und Mumbay ganz erheblich, nämlich von 19.855 auf 11.593 Kilometer. Das bringt den Schiffsverkehr enorm in Schwung: Im Jahr 1870 durchqueren 486 Schiffe mit 26.758 Passagieren den Kanal. 1913 sind es bereits 5.085 Durchfahrten mit insgesamt 234.320 Reisenden.

Barrieren für Beduinen

Der Mobilität der einen steht die eingeschränkte Bewegungsfreiheit der anderen gegenüber: Die Beduinen, die den Sinai seit Jahrhunderten mit ihren Karawanen durchqueren, stehen mit einem Mal vor einem unüberwindlichen Wassergraben. Für sie werden eigene Fährdienste eingerichtet. Zugleich sehen sie sich dem Ordnungswillen internationaler Investoren gegenüber, die auch das Umfeld des Kanals strikter Ordnung unterwerfen wollen.

So wird es für die Beduinen immer mühsamer, ihre Routen einzuhalten, mit der Folge, dass ihre Geschäfte seit dem Kanalbau mehr und mehr zurückgehen. Unruhen und religiöser Radikalismus sind die Folgen, die sich schließlich noch ausweiten, als Ägypten infolge zu großer Investitionen in den Kanal in eine Schuldenkrise gerät, die 1882 in die britische Herrschaft über das Land mündet.

Doch der frühe Islamismus, wie er sich bei Autoren wie Rachid Rida und Jamal al-Din zeigt, ist nicht die einzige politisch-kulturelle Reaktion auf den Kanalbau. Umgekehrt halten nach der Vollendung auch internationale politische Strömungen Einzug in Ägypten. Auch sie sind auf das engste mit dem Kanal verbunden. Denn Ägypten ist zur Drehscheibe des internationalen Verkehrs geworden.

Knotenpunkte der internationalen Schifffahrtswege

"Knotenpunkte der Dampfschifffahrtsrouten sind die gerade industrialisierten oder kolonisierten Hafenstädte wie Port Said, Aden, Beirut, Bombay, Singapur und Mombasa", schreiben James L. Gelvin und Nile Green. Auch Rio de Janeiro und Yokohama wurden in dieses globale Netz einbezogen.

Über diese Wege kommen auch radikale Ideen in den Nahen Osten. "Syrer und Libanesen vermischten sich mit dem wohl größten italienischen Export des 19. Jahrhunderts – den Anarchisten – in Beirut, Kairo, Alexandria. Genauso in Rio de Janeiro, New Jersey und Massachusetts."

Jenseits der politischen Programme und Ideologien werden aber auch die Menschen selber mobil. Aus dem Nahen Osten, vor allem dem Gebiet des heutigen Libanon, reisen Zehntausende Menschen in die Neue Welt, nach Nord- und Südamerika. Ihre Eindrücke und Erfahrungen fließen zurück in die alte Heimat, künden von einer Welt, die dank steam and print, dank Dampfschiffe und moderner Druckerpresse unaufhaltsam Einzug in den Nahen Osten hält.

Kersten Knipp

© Qantara.de 2014

 

Huber, Valeska, „Channeling Mobilities. Migration and Globalisation in the Suez Canal Region and Beyond, 1869 – 1914“, Cambridge, 2013

Gelvin, James L. / Nile Green, Global Muslims in the Age of Steam and Print, Los Angeles, 2014