Baldige Jugendkrawalle in Berlin?

Die Ausschreitungen in Frankreich haben auch in Deutschland ein Nachdenken über die Situation junger Migranten ausgelöst. Als besonderer Brennpunkt gilt Berlin. Ariana Mirza hat sich dort unter muslimischen Jugendlichen und Sozialarbeitern umgehört.

Jugendliche in Kreuzberg; Foto: Larissa Bender
Fühlen sich als Deutsche und als Türken oder Araber - jugendliche Migranten in Deutschland

​​Ali und seine Freunde sehen gelangweilt aus. Fast jeden Tag verbringen sie auf der Straße, "quatschen und so". Manchmal, so erzählt Ali, gehen sie auch ins Internet-Café oder eine der zahlreichen Spielhallen ihres Viertels. Doch meist fehlt ihnen das Geld.

Die Jungen feixen herum, als sie sich zur Lage in Frankreich und zu möglichen Parallelen äußern sollen. "Weiß nicht, da kenn ich mich nicht aus", meint Ali, der 16-jährige Wortführer.

Frankreich ist ihm so fern wie der Mond. Seine Freunde tänzeln um die Parkbank herum, die der Gruppe als Treffpunkt dient. Sie lachen und stoßen sich gegenseitig mit den Ellenbogen an. "Hier ist bestimmt nicht Frankreich, hier ist absolut nichts los!"

Hinter der Langeweile und Perspektivlosigkeit von Ali und seiner Gang verbirgt sich eine beunruhigende Statistik: Bundesweit erlangt nur ein Drittel der Jugendlichen aus Migrantenhaushalten den erweiterten Hauptschulabschluss, ebenso wenige absolvieren eine Berufsausbildung.

Diese Zahlen sind für die "Türkische Gemeinde in Deutschland" Alarmzeichen. In einem aktuell veröffentlichten "Vier-Punkte-Plan" wird die Bundesregierung zum unverzüglichen Handeln aufgefordert. Unter anderem müsse die finanzielle Förderung junger Migranten direkt im Bundeshaushalt verankert werden.

Gespaltene Identitäten

Herumstreunende Cliquen, wie die von Ali, gehören in Berlin mittlerweile zum Alltag. Im Gegensatz zu ihren französischen Altersgenossen empfinden die Kids ihre angestammten Bezirke jedoch kaum als Ghetto. "Klar, hier leben viele Türken, aber auch ganz schön viele Deutsche, Studenten und so", klärt Ali auf.

Er selbst hat sich, wie so viele junge Migranten, in einem Zwischenraum beheimatet. "Begegnen sie einem Deutschen, der etwas von ihnen fordert, betonen sie, dass sie Türken oder Araber wären", erzählt ein Sozialarbeiter, "zuhause sagen sie, dass sie Deutsche sind."

Auch Fouratt und Tarik wollen sich nicht eindeutig auf eine Nationalität festlegen. Zunächst sagen sie "Wir sind aus dem Libanon", aber im nächsten Satz verwerfen sie diese Selbsteinschätzung wieder. Im Grunde wüssten sie gar nicht viel über den Libanon, wollten auf keinen Fall jemals dorthin ziehen, und ihr Arabisch sei auch nicht perfekt.

Dann sprechen die Hauptschüler davon, dass sie Muslime seien. Das auf jeden Fall. Und ihre Heimat? Die 15-Jährigen werden bei jeder Nachfrage unsicherer. Nach kurzer Diskussion bezeichnen sie sich einfach als "Kreuzberger", so heißt der Stadtteil in dem sie leben.

Mohamad Zaher weiß um die Schwierigkeiten der Jugendlichen bei ihrer Identitätssuche. "Sprache, Kultur und Religion sind die tragenden Säulen." Der Palästinenser gründete 1978 in Berlin den "Jugendclub Karame". Seine langjährige Erfahrung hat ihn vor allem eines gelehrt: "Es ist zu spät wenn man sich erst um die 18- bis 19-Jährigen bemüht, die schon auffällig geworden sind. Man muss viel früher ansetzen."

Keine deutsche Integrationspolitik

Heute betreut der "Jugendclub Karame" bereits Grundschulkinder, begleitet sie ins Erwachsenenleben und pflegt Kontakte in die Elternhäuser. "Die rund 250 arabisch-stämmigen Familien in unserem Bezirk kennen alle unseren Verein", erzählt Zaher nicht ohne Stolz.

Trotzdem hält er seine Bemühungen für einen Tropfen auf den heißen Stein. Er sieht grundlegende Defizite. "Bis heute wurde versäumt, eine klar definierte Integrationspolitik für Deutschland zu entwickeln."

Kemal Özbasi vom Verein "Gangway" betreut vorwiegend "Streetkids", Jugendliche, die gesellschaftlich bereits am Rande stehen. Der 38-Jährige gehört zu den wenigen Sozialarbeitern mit Migrationshintergrund, die in Berliner Jugendprojekten tätig sind.

Islamisches Wertesystem

Auf die Frage, inwiefern der Glaube für seine jugendliche Klientel von Bedeutung sei, erwidert er: "Die Religion spielt eine bedeutende Rolle, besonders was das Wertesystem anbelangt."

Islamische Grundsätze würden von den Jugendlichen genutzt, um ihr eigenes Verhalten zu regulieren. Eine Aussage, die sich bei der Recherche bestätigt.

Auch Ali und seine Freunde diskutieren häufig darüber, was "haram" sei. Sich zu prügeln wäre schon in Ordnung. "Wenn dich zum Beispiel einer beleidigt." Stehlen käme für sie nicht in Frage, weil Stehlen im Koran verboten sei.

Dass auch der beliebte Spielhallenbesuch den Grundsätzen des Islam widerspricht, verdrängen die Jungen lieber. Darauf angesprochen, lachen sie: "Wir sind doch Deutsche."

Ariana Mirza

© Qantara.de 2005

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