Die Erde als akustisches Notizbuch

Er hat das Gesicht der türkischen Musikszene für immer verändert: Arkın Ilicali alias Mercan Dede. Mit seinem neuen Album "Dünya" komplettiert der türkische Musiker seinen CD-Zyklus über die Elemente. Stefan Franzen stellt den Ausnahmemusiker und das Album und vor.

Von Stefan Franzen

Mercan Dede ist als Wandelnder zwischen seiner Wahlheimat Montreal und seinen Wurzeln am Bosporus, zwischen Sufi-Spiritualität und DJ Culture, zwischen anatolischem Erbe und progressiver Popmusik zweifelsohne eine Symbolfigur für eine weltoffene Türkei.

Zu seinen frühesten musikalischen Erinnerungen zählt der Klang der Ney-Flöte aus dem Radio, der ihn schon mit sechs Jahren faszinierte, ebenso die Hochzeitsgesänge der Roma-Frauen. "Der sphärisch-klassische Klang dieser Flöte und der tribale Charakter der Stimmen, diese beiden Aspekte haben mich vielleicht unbewusst so geprägt, dass ich sie heute in meiner Musik zusammenbringe", reflektiert er.

Auch die Traditionen der Sufi-Mystiker sog er schon als Jugendlicher eifrig auf. All diese Vorlieben führten ihn jedoch nicht schnurstracks zur Musik: Zunächst brach er aus seinem anatolischen Dorf nach Istanbul auf, um Fotojournalismus zu studieren. Seine Bilder erregten dabei einiges Aufsehen, denn das kanadische Saskatoon lud ihn ein, eine Ausstellung zu präsentieren.

Kombination aus Archaischem und Technoidem

Auf der anderen Seite der Welt kam der junge Türke mit der Ethnomusikologie in Kontakt, lernte Klänge aus der ganzen Welt kennen. Elektronik und Volkskulturen, so erkannte er, sind nur zwei nur vermeintliche Gegenspieler. Und die koppelte er in den frühen Neunzigern in seiner neuen Wahlheimat Montreal zusammen, mitten im aufkeimenden Technoboom. Während er die Shows der härteren Gangart unter seinem DJ-Namen Arkin Allen absolvierte, agierte er in der traditionelleren Variante als "Mercan Dede"– den Namen hat er  einer Figur aus einem Roman von Ihsan Oktay Anar entlehnt.

"Ich merkte, wie ich mit dieser Kombination aus Archaischem und Technoidem unglaubliche Energien kreieren konnte", erinnert er sich an die Frühzeit seiner Karriere. "Da sehe ich durchaus Zusammenhänge zur schamanischen Musik aus Zentralasien, wo jede Tonskala auf die Heilung eines bestimmten Körperteils abzielt. Meine Bühnenshow kann die Zuhörer wie eine schockartige spirituelle Erfahrung treffen." Nachdem Mercan Dede am Bosporus Kult geworden war, entwickelte er sich Anfang des neuen Millenniums schnell zum größten Exportartikel der Türkei.

Rapper, Jazzer und Protagonisten der Weltmusik

Begründet wurde Dedes internationaler Ruf ab 2002 durch eine CD-Trilogie, die er den Elementen gewidmet hat. Auf "Nar" (Feuer), "Su" (Wasser) und "Nefes" (Atem) entwickelte er seine ambitionierte Klangphilosophie in eine fast orchestrale Dimension hinein: Anerkannte Virtuosen der sowohl traditionellen als auch klassischen türkischen Musik aus drei Generationen treffen auf Rapper, Jazzer und Protagonisten der Weltmusik, der tunesische Sänger Dhafer Youssef und die ägyptische Global Dance-Diva Natacha Atlas unter ihnen. Frei interpretierte Abwandlungen des Sema, des Drehtanz-Rituals der Sufi-Derwische, sind dabei bis heute ein fester Bestandteil seiner Shows.

Diese Affinität zum Tanz brachte ihm in jener Phase seiner Karriere auch wiederholt Kollaborationen mit Choreographen wie Pina Bausch ein. Dede erklomm regelmäßig Spitzenpositionen in den Weltmusik-Charts, trat in Fatih Akins Istanbul-Dokumentation "Crossing The Bridge" auf. Zum 800. Geburtstag des Sufi-Dichters Rumi veröffentlichte er 2008 sein Album „800“, auf dem er ein multinationales Ensemble mit Musikern aus der Türkei, dem Iran, China, Kanada, Indien und der Schweiz versammelte.

In den letzten Jahren war es still geworden um Mercan Dede. Nach einer langen kreativen Pause meldet er sich nun mit dem Album "Dünya" zurück, das den Elemente-Zyklus mit der bislang fehlenden "Erde" endlich vollendet. Und er erklärt im Interview auch, warum es so lange gedauert hat: "Auf allen meinen Alben ist das Wichtigste für mich die Aufrichtigkeit, die Musik muss der Soundtrack zu den Erfahrungen sein, die das Leben mir gerade beschert. Nach Feuer, Luft und Wasser begann ich also mit der Arbeit an diesem 'Erde'-Album. Aber es fühlte sich nicht richtig an, so, als hätte ich keine ausreichend starke Verbindung zur Erde, und so verschob ich die Arbeit erst einmal. Zwischendurch hatte ich sogar die Idee, das Album erst nach meinem Tod zu veröffentlichen, wenn ich wieder zu Erde geworden bin und sie dann besser verstehen werde."

Im Geiste von Rumi und Hafez

Schließlich ist das Werk doch fertig geworden, denn Mercan Dede fand einen neuen Aspekt für die Darstellung der Erde in Musik. Der ist sehr spirituell und persönlich, denn "Dünya", so erläutert er, kann auch mit „dein Leben“ übersetzt werden. "Ich habe über Jahre hinweg Sounds in verschiedenen Städten gesammelt, es ist mein akustisches Notizbuch von Indien bis Brasilien, von Tokio bis Montreal." Außerdem trug er während der Produktion Zitate großer persischer Sufi-Meister von Rumi bis Hafez zusammen, auf Kassettenrekorder gesprochene Gedichte eines unbekannten Dichterfreundes namens Yalinayak Basikabak (der "barfüßige Glatzkopf"), und auch die einzige Originalaufnahme der Sprechstimme Gandhis begleitet die Musik.

"Dünya" teilt sich in zwei CDs, die mit "Sunset" und "Sunrise" überschrieben sind, in eine ausgesprochen tanzbare, club-kompatible Abteilung und eine eher meditative, rhythmisch freie, traditionelle Suite, in der  faszinierende Frauenstimmen prominent herausragen: Mit der Alevitin Sabahat Akkiraz hat Dede schon in früheren Werken gearbeitet, die Exiliranerin Azam Ali ist auf auf die moderne Umsetzung von Sufi-Gedichten spezialisiert.

Für den Musiker spiegeln die beiden Kapitel von "Dünya" die beiden Gesichter seines künstlerischen Naturells wider, zum anderen aber auch den Zustand der Erde: "Der Sonnenuntergang steht für den Niedergang der Erde und unserer Menschheit, hat einen materialistischen, elektronischen, digitalen Aspekt, weniger persönlich. Der Sonnenaufgang hingegen bedeutet die Erweckung der spirituellen Schichten in uns. Das erzeugt zusammen einen magischen Lebenszyklus von Tag und Nacht, Licht und Dunkel, akustisch und digital. Wir als Menschheit stehen genau in der Mitte dieser beiden Aspekte."

Stefan Franzen

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