Stadt der Rosen, Stadt der Folter

Der Fall des belgisch-marokkanischen Staatsangehörigen Ali Aarrass wirft ein Schlaglicht auf die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen und die Existenz von Foltergefängnissen in Marokko. Während das Königshaus schweigt, schaut die Öffentlichkeit geflissentlich hinweg. Einzelheiten von Susanne Kaiser

Von Susanne Kaiser

"Vor allem gab es kein Licht, nicht den kleinsten Lichtstrahl", erinnert sich Aziz Binebine, der 18 Jahre lang in vollkommener Dunkelheit in einer kleinen Zelle von drei Metern Länge leben musste. Hitze, Kälte, verdorbenes Essen, Skorpione, die langsam voranschreitende Deformation des Körpers – schutzlos war er diesen Widrigkeiten ausgeliefert und überlebte sie dennoch.

Seine Geschichte hat der marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun in Schweigen des Lichts aus dem Jahr 2001 aufgeschrieben, in einem viel zu späten Zeugnis dessen, was sich 20 Jahre lang in Marokkos unterirdischen Folterverließen abgespielt hatte. Binebine kam im Jahr 1991 als einer von sechs schwerkranken Überlebenden des berüchtigten Block B aus Tazmamart frei, dem schlimmsten aller Kerker Marokkos, nachdem der internationale Druck den damaligen König Hassan II. zur Preisgabe seiner Geheimgefängnisse gezwungen hatte.

Die 23 übrigen Gefangenen, mit denen Binebine Anfang der 1970er Jahre dort eingesperrt wurde, sollten das Tageslicht nicht wieder erblicken. Sie gehörten zum einfachen Fußvolk der Armee, Offiziere und Unteroffiziere, an denen sich der König rächte, nachdem zwei Putschversuche gegen seine royale Despotie gescheitert waren.

Die "Bleiernen Jahre"

Fast ein Vierteljahrhundert liegt diese Zeit nun schon zurück, die als die "Bleiernen Jahre" (von den 1960ern bis Anfang der 1990er Jahre) in die Geschichte Marokkos einging und die von der exzessiven Repression, Verfolgung und Folter politischer Oppositioneller – Putschisten, Westsahara-Aktivisten, Linke, Lehrer, Studenten – geprägt war.

Seit mehr als 10 Jahren schon gibt es eine "Wahrheitskommission", die die zahllosen Menschenrechtsverletzungen aus der Zeit aufarbeiten und wiedergutmachen soll. Über 20.000 Anträge auf Wiedergutmachung sind dort eingegangen, wie der Abschlussbericht deutlich macht. Doch kein einziger Täter von damals ist seitdem zur Verantwortung gezogen worden.

Der frühere marokkanische König Hassan II.; Foto: picture-alliance/dpa
Schatten der Vergangenheit: Unter König Hassan II. waren Tausende politische Gefangene von massiven Menschenrechtsverletzungen betroffen. Um Licht in dieses düstere Kapitel zu bringen, eröffnete im Dezember 2004 eine Wahrheitskommission den Opfern, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Neben der Entschädigung der Personen, die Opfer von willkürlichen Verhaftungen, Entführungen und ähnlichen Rechtsverletzungen wurden, kümmerte sich die Kommission auch um die psychische und gesundheitliche Rehabilitierung der Opfer und unterstützte sie dabei, die administrativen, beruflichen und juristischen Probleme zu lösen, die sich den Entführten nach ihrem Wiederauftauchen und den Gefangenen nach ihrer Freilassung stellen.

Der Sohn und Nachfolger von Hassan II., der als "Reformkönig" gepriesene und seit 1999 regierende Mohammed VI., hatte die Wahrheitskommission ins Leben gerufen, damit Tazmamart sich nicht wiederholen sollte.

Doch auch heute, 21 Jahre nachdem Marokko die UN-Übereinkunft gegen Folter ratifiziert hat und nach dem Beginn der neuen Ära der kollektiven Aufarbeitung der "Bleiernen Jahre", ist Folter in Marokko nach wie vor verbreitet. Ein Beispiel ist Ali Aarrass, der sich gegenwärtig im Gefängnis in Salé II bei Rabat im Hungerstreik gegen die menschenunwürdigen Haftbedingungen  befindet.

Ali Aarrass' Bericht legt Zeugnis von den erschreckenden Bedingungen für politische Gefangene in Marokko ab: "Ich wurde an Händen und Füßen aufgehängt, dann prügelten sie überall auf mich ein. Sie haben dabei mit solcher Brutalität auf meinen Kopf eingeschlagen, dass mir das Trommelfell geplatzt ist. Immer wieder gaben sie vor, mich zu ertränken, und jedes Mal, wenn ich die Besinnung verlor, wurde ich wieder zu Bewusstsein gebracht und die Prozedur begann erneut – endlos. Auch wurden mir von Ärzten in weißen Kitteln merkwürdige Substanzen injiziert. Ich hatte das Gefühl, innerlich zu explodieren, verrückt zu werden". Über manche Folterpraktiken kann Aarrass bis heute nicht sprechen – zu frisch sind die Erinnerungen an die traumatischen Erfahrungen.

Ali Aarrass; Foto: amnesty international
Ali Aarrass berichtete, dass er nach seiner Ankunft in Marokko zwölf Tage in Isolationshaft in einem geheimen Verhörzentrum des marokkanischen Geheimdienstes DST in Témara festgehalten und gefoltert wurde. Dabei habe man die Foltermethode "Falaqa" angewendet. Hierbei erhält der Betroffene äußerst schmerzhafte Schläge auf die Fußsohlen. Außerdem habe man ihm Elektroschocks an den Hoden verabreicht, ihn über längere Zeiträume an den Handgelenken aufgehängt und mit Zigaretten verbrannt.

Ali Aarrass wurde 2008 wegen Terrorismusverdachts in Spanien festgenommen. Hinweise oder Belege hierfür ließen sich jedoch nicht finden. Dennoch lieferte man den belgisch-marokkanischen Staatsangehörigen 2010 an Marokko aus, wo er inhaftiert wurde. Wie Amnesty International berichtet, wurde er dort gefoltert und 2011 aufgrund von Geständnissen, die er unter Folter unterzeichnet hatte, zu 15 Jahren Haft verurteilt. Die Gefängnisstrafe wurde zwar im Berufungsverfahren auf 12 Jahre reduziert. Seine kleine Tochter hat Aarrass seit seiner Verhaftung jedoch nicht wieder gesehen.

Die Aussagen von Aarrass und vielen anderen Inhaftierten werden von Amnesty in ihrem aktuellen Bericht "Shadow of Impunity: Torture in Morocco and Western Sahara" bestätigt. Allein nach den Anschlägen von Casablanca vom 16. Mai 2003, bei denen mehr als 40 Menschen ihr Leben ließen und Hunderte verletzt wurden, kamen 2.000 Terrorverdächtige in Haft. Allein zehn von ihnen sollen im Gefängnis Témara gefoltert worden sein, wie Human Rights Watch in einem Bericht "Human Rights at a Crossroads" aus dem Jahr 2004 dokumentiert.

"In Kelaa Mgouna gibt es nichts als Rosen"

Die marokkanischen Behörden weisen die Foltervorwürfe weit von sich und behaupten, es gebe gar kein Geheimgefängnis in Témara, in dem Verhöre stattfänden. "Die Zeiten von Geheimgefängnissen sind vorbei", gab etwa Justizminister Mohamed Bouzoubaa nach den Anschlägen von Casablanca gegenüber der marokkanischen Presseagentur zu Protokoll, nachdem die Kritik am Vorgehen des Staates gegen mutmaßliche Terroristen immer lauter wurde.

Bereits in der Ära Hassan II. fielen die Reaktionen des Königshauses nicht anders aus. Während eines Fernsehinterviews wurde Hassan II. einmal nach der Existenz von Foltergefängnissen wie in Tazmamart und Kelaa Mgouna befragt. Kelaa Mgouna ist eine kleine Stadt im Atlas, die bekannt ist für ihre Rosenprodukte und den Tourismus. Auf einer Anhöhe ganz in der Nähe befindet sich ein Gefängnis, in dem – wie man heute weiß – jahrzehntelang gefoltert wurde. Der König gab sich demonstrativ ahnungslos, zuckte mit den Schultern und antwortete schließlich: "In Kelaa Mgouna gibt es nichts als Rosen!"

Susanne Kaiser

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