Alle Macht dem Palast

Die fünf Monate währende Regierungskrise und die Entlassung von Ministerpräsident Benkirane werfen ein Schlaglicht auf den Machtanspruch des marokkanischen Königs, der neben sich keinen Mitregenten duldet. Eine Analyse des marokkanischen Dissidenten und Journalisten Ali Anouzla

Von Ali Anouzla

Seit den Parlamentswahlen vom 7. Oktober 2016, bei denen die "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" (PJD) als stimmenstärkste Partei hervorgegangen ist, erlebt Marokko eine in seiner jüngeren Geschichte nie dagewesene politische Krise, die bislang eine Regierungsbildung verhindert hatte.

Nach der marokkanischen Verfassung ernennt der König einen Vertreter der stimmenstärksten Partei zum Regierungschef. Ganz in diesem Sinne beauftragte der König bereits am 10. Oktober 2016 den PJD-Generalsekretär und bisherigen Regierungschef Abdelilah Benkirane mit der Bildung einer neuen Regierung.

Doch ganze fünf Monate lang trat er mit seinen Bemühungen auf der Stelle, nachdem alle bisherigen Versuche, eine parlamentarische Mehrheit für seine Regierung auf die Beine zu stellen, gescheitert waren. Erst am 17. März rang sich Marokkos König Mohammed VI. zu einer Entscheidung durch, indem er  Ministerpräsident Benkirane ablöste und den PJD-Politiker Saad-Eddine El Othmani zum neuen Regierungschef ernannte.

Marokkos Königshaus – der unsichtbare Akteur

Der Grund für diese Verzögerung war, dass bis heute im Hintergrund ein unsichtbarer politischer Akteur die Fäden der Macht in der Hand hält: "der Königspalast". Auf dessen Weisung hin wurde ein Freund des Königs unmittelbar nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse zum Vorsitzenden einer Kleinpartei berufen. Diesem frisch gekürten "Parteiführer" gelang es, ebenfalls mit Unterstützung des Palastes, ein Bündnis aus vier Parteien zu schmieden und als dessen Vertreter die Verhandlungen mit Benkirane zu führen.

Obwohl dieses Viererbündnis insgesamt nur über 103 Sitze im Parlament verfügt (gegenüber den 126 Sitzen der PJD), entpuppte es sich dennoch als treibende Kraft bei den Verhandlungen, indem es versuchte, dem designierten Regierungschef seine Bedingungen zu diktieren und ihn jedes Mal zu neuen Zugeständnissen zu drängen. Diesem blieb nichts weiter übrig als sich auf dieses Spiel einzulassen, denn ihm war klar, dass jenes Bündnis nicht aus eigener Motivation handelte, sondern auf Geheiß des Palastes, ohne den es gar nicht erst zustande gekommen wäre.

Die Frage, die sich viele Beobachter derzeit stellen, lautet: Warum ist der Palast so sehr darauf bedacht, Druck auf einen Parteivorsitzenden auszuüben, der sich bekanntlich auch ohne jeden Druck den königlichen Forderungen beugen würde? Muss dahinter nicht die Absicht vermutet werden, ihn zu demütigen und zu unterwerfen, um ihn so in den Augen der Öffentlichkeit jeder Glaubwürdigkeit zu berauben?

Eine mögliche Antwort darauf liefert eine historische Betrachtung des Beziehungsgeflechts zwischen Palast, politischen Parteien und Gewerkschaften seit der Unabhängigkeit Marokkos. Dabei kommen teils offene, teils unterschwellige Konflikte zum Vorschein, welche bisweilen sogar die Form bewaffneter Auseinandersetzungen angenommen haben. Der eigentliche Streitpunkt war dabei immer der Anspruch des Palastes, alle Macht in seiner Hand zu bündeln. Denn er duldet neben sich keine Mitregenten, selbst wenn diese ihm treu ergeben sind.

Marokkos ehemaliger Ministerpräsident Benkirane; Foto: picture-alliance/dpa
Politisch abserviert: Mehr als fünf Monate nach dem Sieg der PJD bei der Parlamentswahl entzog der marokkanische König Mohammed VI. Regierungschef Abdelilah Benkirane Mitte März den Auftrag zur Regierungsbildung. Stattdessen wurde Saad-Eddine El Othmani zum neuen Regierungschef bestimmt. El Othmani ist Psychiater von Beruf und war von 2004 bis 2008 Chef der islamistischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD). Von 2012 bis 2013 war er Außenminister.

Politische Zwietracht und erkaufte Loyalitäten

Die Strategie des Palastes bestand seit der Unabhängigkeit Marokkos darin, politische Parteien und Gewerkschaften zu schwächen und soziale Bewegungen im Keim zu ersticken. Zur Durchsetzung dieser Strategie bediente er sich verschiedener Mechanismen. So betrieb er die Spaltung der Parteien und Gewerkschaften, säte Zwietracht in deren Reihen, erkaufte sich die Loyalität ihrer Anführer und überzog diejenigen, die den Verlockungen widerstanden und nicht von ihren Grundsätzen abrücken wollten, mit Repression. Ersatzweise schuf er partei- und gewerkschaftsähnliche Gebilde, die ihm loyal gesinnt waren, um die politische Landschaft aufzumischen und um die Entstehung eines Machtvakuums zu verhindern.

Diese Strategie hat bis heute nichts an ihrer Wirksamkeit eingebüßt. Doch gegenüber der PJD hat sie bislang offenbar nicht gefruchtet. Denn eine der größten Stärken dieser Partei ist es, dass sie trotz all ihres Pragmatismus und ihrer Kompromissbereitschaft nach wie vor immun gegenüber Infiltrierungs- und Spaltungsversuchen ist.

Keine Integration für Marokkos Integristen

Bis zu einem gewissen Grade war die PJD anfänglich ein Produkt des Palastes gewesen, das zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen sollte:

Zum einen ging es um eine politische Einbindung der Islamisten, damit ihnen nicht das Oppositionsmonopol in den Schoß fiel, nachdem der verstorbene König Hassan II. im Jahr 1998 die bis dahin vier Jahrzehnte lang dominierende Oppositionspartei "Sozialistische Union der Volkskräfte" (USFP) überredet hatte, in die Regierung einzutreten und den Premier zu stellen.

Nur wenige Monate zuvor, im Jahr 1997, war der (islamistischen) "Bewegung für Einheit und Reform" zum ersten Mal erlaubt worden, sich am politischen Spiel zu beteiligen, indem sie sich mit einer der palasttreuen Parteien zusammentat und schließlich mit ihr fusionierte. Daraus ging die heute unter dem Namen "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" (PJD) bekannte Formation hervor.

Das zweite Ziel bestand darin, die verschiedenen Flügel der Islamisten auseinanderzudividieren. Bis dahin hatten sie - trotz ihrer ideologischen Zerrissenheit - die Tatsache zusammengehalten, dass das Regime jede Zusammenarbeit mit ihnen kategorisch ablehnte, nicht nur mit dem systemfeindlichen Flügel, sondern auch mit den Pragmatikern, die, um sich der Staatsmacht anzudienen, zu jedem Kompromiss bereit waren. Welchen Weg sie auch immer einschlugen, sie mussten außerhalb der politischen Arena agieren – durchaus zum Unbehagen der Staatsmacht.

Parteikongress der PJD in Rabat; Foto: picture-alliance/dpa
Unliebsame Opposition: Die Strategie des Palastes bestand seit der Unabhängigkeit Marokkos darin, politische Parteien und Gewerkschaften zu schwächen und soziale Bewegungen im Keim zu ersticken. Zur Durchsetzung dieser Strategie bediente sich Mohammed VI. sich verschiedener Mechanismen. So betrieb er die Spaltung der Parteien und Gewerkschaften, säte Zwietracht in deren Reihen, erkaufte sich die Loyalität ihrer Anführer und überzog diejenigen, die den Verlockungen widerstanden und nicht von ihren Grundsätzen abrücken wollten, mit Repression.

Die PJD als Dorn im Auge des Königs

Doch eben jene Partei, die mit dem Segen des Systems gegründet worden war, sollte sich mehr und mehr zu einem lästigen Stachel in dessen Fleisch entpuppen. Es gelang der Staatsmacht nicht, einen Keil in die Partei zu treiben und sie dadurch von innen heraus zu schwächen. Hier verläuft bis heute eine der latenten Konfliktlinien zwischen Palast und PJD. Das nicht offen proklamierte Ziel des Palastes ist die Schwächung der PJD, denn unabhängige, oder gar starke, mit einer derart großen Popularität und demokratischen Legitimation ausgestattete Parteien sind dem König ein Dorn im Auge - selbst dann, wenn diese ihm ihre Loyalität bekunden und zu allen nur erdenklichen Zugeständnissen bereit sind.

Trotz des Pragmatismus ihrer Funktionäre jagt diese Partei der Staatsmacht Angst ein. Ist es ihr doch in gewisser Weise gelungen, eben jenem Wahlsystem ein Schnippchen zu schlagen, mithilfe dessen sich das Regime die politische Landschaft zurechtgezimmert hatte. Vier Jahrzehnte hindurch war dieses Wahlsystem einer der wichtigsten Schalthebel der Staatsmacht gewesen, um die marokkanische Politik nach Belieben zu steuern.

Drei grundlegende Mechanismen erlauben es der Staatsmacht, schon im Vorfeld Einfluss auf die Wahlergebnisse auszuüben: die Gestaltung des Wahlrechts nach eigenem Gusto sowie die Einteilung der Wahlkreise und die Zusammenstellung der Wählerlisten. All dies unter Aufsicht des Innenministeriums, an dessen Spitze häufig nicht-gewählte, vom König ernannte Minister stehen, die wiederum nicht dem Premierminister unterstellt sind.

Obwohl dieses System unverändert fortbesteht, ist es der PJD – die übrigens als diejenige Partei gilt, die am zaghaftesten Kritik an diesem System übt – bei den Wahlen vom 7. Oktober in gewisser Weise gelungen, es auszuhebeln, indem die Partei mehr als 31 Prozent der Parlamentssitze für sich gewinnen konnte.

Beobachter der marokkanischen Innenpolitik halten es für möglich, dass die PJD mehr als 50 Prozent der Parlamentssitze hätte erringen können, wenn es zu Neuwahlen als Konsequenz einer gescheiterten Regierungsbildung gekommen wäre. Viele Wähler hätten dann mit ihr sympathisiert und sie als Opfer des Systems gesehen.

Das ambivalente politische Spiel der moderaten Islamisten

Die PJD hat unter Beweis gestellt, dass sie zu unabhängigen Entscheidungen in der Lage ist. Darin liegt eine ihrer großen Stärken. Allerdings ist sie auch eine Partei, die nicht so recht weiß, was sie mit ihrer Unabhängigkeit anfangen soll. Auf der einen Seite ist sie gegen das "Machtkartell", also gegen den "tiefen Staat". Auf der anderen Seite lässt sie keine Gelegenheit aus, ihr gutes Verhältnis zu eben diesem Staat zu betonen. Sie widersetzt sich dem von ihm ausgeübten Druck und kommt gleichzeitig seinen Forderungen bereitwillig entgegen.

Der marokkanische Journalist Ali Anouzla; Foto: AFP/Getty Images
Der marokkanischer Autor und Journalist Ali Anouzla war verantwortlich für die 2013 von den marokkanischen Behörden verbotene Webseite "lakome.com". 2013 erhielt er den Preis "Leaders for Democracy" der amerikanischen Organisation POMED. Er ist seit März dieses Jahres Gast der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte.

Die Frage, was im heutigen Marokko eine unabhängige Partei ausmacht, ist also gar nicht so leicht zu beantworten, wenn selbst die größte sich unabhängig gebende Partei nicht in der Lage ist, in der Auseinandersetzung mit ihrem politischen Gegner diese Unabhängigkeit auch wirklich als Trumpf auszuspielen. Schließlich gilt für die Unabhängigkeit das gleiche wie für die Freiheit: Sie lässt sich nur durch tatsächliche Anwendung bewahren und festigen.

Ziel des Palastes ist es letztendlich, die PJD als eine nach seiner Pfeife tanzende Partei und damit als abschreckendes Beispiel für andere Parteien erscheinen zu lassen. Der Vertrauenswürdigkeit der moderaten Islamisten würde diese Nähe zum Königshaus natürlich schaden, und es würde ihre Popularität unter ihren Anhängern und Sympathisanten schmälern, wenn sie ihren Anspruch auf Unabhängigkeit aufgäbe.

Zerrüttetes Verhältnis zwischen Palast und PJD

Die jüngste politische Krise Marokkos hat den Blick auf drei grundlegende Tendenzen in der marokkanischen Politik freigegeben:

1. Der Palast duldet neben sich keine Mitregenten, egal welcher Provenienz und mit was für einer Legitimation ausgestattet – nicht einmal solche, die ihm treu ergeben und zu Diensten sind.

2. Zwischen Palast und Islamisten ist das Vertrauen zerrüttet, ungeachtet der Tatsache, dass die PJD während der vergangenen fünf Jahre ihre Regierungsfähigkeit unter Beweis gestellt hat und alles tut, um den Palast bei Laune zu halten.

3. Der Herrschaftselite des Landes, verkörpert durch den Königspalast, fehlt es an einem echten politischen Willen zur Errichtung eines transparenten politischen Systems, in dem sich der Wille des Volkes in freien Wahlen manifestieren kann.

Ali Anouzla

© Qantara.de 2017

Übersetzt aus dem Arabischen von Rafael Sanchez