Schach dem Scheich!

Trotz politischer Rückschläge bemüht sich die marokkanische Führung nach den Anschlägen vom 11. September verstärkt, den Spielraum islamischer Extremisten einzuschränken. Gegen eine der einflussreichsten Gruppen scheint die Strategie des marokkanischen Königs inzwischen aufzugehen, wie Mourad Kusserow berichtet.

Schachfigur

​​Marokko gehört zu den arabischen und islamischen Staaten, die spontan und ohne jedes Wenn und Aber die Terrorakte vom 11. September 2001 verurteilt haben. So fand am 17. September 2001 in der Cathédrale de Saint Pierre in Rabat ein ökumenischer Gedenkgottesdienst für die Terroropfer von New York und Washington statt.

Es war ein einmaliges Ereignis für Marokko, denn Vertreter aller abrahamschen Bekenntnisse - Juden, Christen und Muslime -, Persönlichkeiten aus Politik und Kultur, Parlamentsabgeordnete und Diplomaten waren vertreten – neben der US-Botschafterin, Mararet Tutwiller, und Marokkos Premierminister Abderrahmane Youssoufi.

Marokkos Kampf gegen den radikalen Islam

Im Unterschied zu allen anderen arabischen Ländern, wo die islamistischen Bewegungen in den letzten Jahren zu einem nicht zu übersehenden Machtfaktor angewachsen sind, hält sich der Aktivismus islamischer Extremisten in Grenzen. Und das nicht ohne Grund: Nach den Terrorakten in New York und Washington hat Marokko die Zusammenarbeit mit internationalen der Antiterror-Koalition verstärkt.

Dabei ist die Aufgabe, vor der die marokkanischen Behörden allein schon bei der Auflistung aller islamistischen Organisationen gestellt sind, nicht leicht. Denn die konspirativ organisierten Vereinigungen verwischen ihre Spuren. Marokkos Banken sind von nun angehalten, jede außergewöhnliche Geldüberweisung aus dem Ausland zu melden.

Das Finanz-Netzwerk der Islamisten

Es ist im "Land am Atlas" ein offenes Geheimnis, dass alle radikalen Islamisten-Organisationen finanzielle Zuwendungen aus dem Ausland erhalten. Vor allem aus Saudi-Arabien, dem Sudan sowie aus Westeuropa, wo getarnte Niederlassungen radikaler Islamisten seit Jahren aktiv sind. Ohne diese Gelder wären deren Aktivitäten, die sich gegen die Monarchie und die liberal-islamische Gesellschaftsordnung richten, nicht zu finanzieren.

Die wichtigste islamistische Organisation in Marokko ist "Al Adl Wal Ihssane" ("Die Gerechtigkeit und die Wohlfahrt"), die von Scheich Yassine geführt wird. Sie ist bis heute verboten.

Dass die Yassine-Organisation, die jede Art von Demokratie verteufelt, über kein eigenes "Betriebskonto" verfügt, gehört zum konspirativen Konzept der Vereinigung. Die marokkanische Presse fragt sich: "Wo versteckt Al Adl Wal Ihssane ihren "islamistischen Kriegsschatz?" Ganz einfach: Die Gelder werden von Strohmännern und Tarnunternehmen verwaltet.

Geldfragen werden auf keiner Konferenz der Organisation diskutiert. Dies bleibt dem "inneren Zirkel" des Familienunternehmens vorbehalten, in dem Nadia Yassine das Sagen hat. Sie ist die Tocher des Scheichs und für die Pressearbeit des Vaters verantwortlich.

Die private Kriegskasse von Scheich Yassine

Neben der Geldzufuhr aus dem Ausland hat der Scheich ein ausgeklügeltes System einer "internen Finanzierung" aufgebaut. Zunächst handelt es sich dabei um die monatlichen Mitgliedsbeiträge sowie um "Geldspenden", die gutgläubige Marokkaner und sympathisierende Ausländer liefern.

Die Spender sind Kaufleute, Lehrer, Apotheker, Ärzte und sogar Arbeitslose, die ihre Beiträge nach festgelegten Quoten regelmäßig in bar abgeben.

Eine weitere Geldquelle, die zur Freude des Yassine-Clans immer noch stetig sprudelt, bilden die permanenten Spendenaufrufe für eine angeblich "gute Sache". Und da mangelt es nicht an "humanitären Gelegenheiten", die die Herzen der Marokkaner ansprechen, wie zum Beispiel der Kampf der Palästinenser, der Tschetschenen, der Not leidenden Kinder im Irak usw.

Wo immer es opportun erscheint, bieten die "islamistischen Helfer" ihre gottgenehmen Dienste an: Waisenkinder erhalten Geld für Schulmaterial, Beschneidungskosten für verwahrloste Straßenjungen werden ebenso übernommen wie der Kauf eines obligatorischen Hammels zum islamischen Opferfest Aid el-Kebir für mittellose Witwen sowie Bestattungskosten.

Kampf für die Rückkehr zum Kalifat

Die Aktivitäten dieser Wohlfahrtsverbände erscheinen auf den ersten Blick lobenswert, doch bei näherem Hinsehen zeigen sie ihr wahres Gesicht: Ohne eine "Gegenleistung" kommen die Bedürftige nicht davon.

Diese islamistische Betreuung zwingt die Begünstigten, die meistens zu den Ärmsten der Armen gehören, sich früher oder später in die "islamistische Front" gegen das Königshaus und den Westen einzureihen. Man verlangt von ihnen eine "Geste der Dankbarkeit". Viele dieser "gesponserten" Armen fühlen sich psychisch unter Druck gesetzt.

Yassines Rekruten sollen ihrem Führer unbedingten Gehorsam schwören, also auch auf seinen Befehl hin bereit sein, zu töten und zu sterben, denn, wie ihnen eingetrichtert wird, "sie fürchten nur Gott". Parallel dazu werden die islamistischen Kämpfer dazu angehalten, ihren Körper zu stählen und mit einem Minimum an Nahrung auszukommen.

Sobald der Zeitpunkt kommt, will Al Adl Wal Ihssane das Startzeichen für den Aufstand der Volksmassen geben. Mit Gewalt soll, so die islamistische Strategie, eine "Islamische Republik" in Marokko errichtet werden, und später dann ein neues Kalifat (Khilafa), das alle islamischen Staaten umfasst.

Gegenstrategien des Königshauses

Kurz nach der Thronbesteigung von König Mohamed VI. am 30. Juli 1999 wetterte Abdessalam Yassine in einem Memorandum gegen den Monarchen und seine "sozialen Aktionen".

Schon als Kronprinz hatte Sidi Mohamed, wie der marokkanische Monarch immer noch genannt wird, damit begonnen, sich um soziale Randgruppen zu kümmern: vor allem um behinderte Menschen sowie um die vier Millionen Slumbewohner, die in den nächsten vier Jahren in menschenwürdige Wohnungen umgesiedelt werden sollen.

Doch die Kampfansage Mohammed VI. gegen Armut und Analphabetismus als Ursache für Unterentwicklung und Extremismus passt dem islamistischen Führer nicht ins Konzept. So versteigt sich Yassine in Hasstiraden gegen den Monarchen: Dieser sei ein "König ohne Legitimität", die Monarchie sei anti-islamisch.

Seit zwei Jahren verfolgt König Mohamed VI. ein soziales Aktionsprogramm. So wurden zahlreiche Moscheen des Landes mittlerweile in Alphabetisierungszentren für Frauen und Männer im Alter von 19 bis 45 Jahren umfunktioniert. Schulbücher und Lehrpersonal werden vom Ministerium für Religiöse Angelegenheit gestellt.

Regelmäßig finden "Solidaritätsaktionen für die Armen" statt, an der auch die 2,8 Millionen im Ausland lebenden Marokkaner beteiligt sind. Viel Geld wurde bereits für Schulen und Internate - vor allem auf dem Lande – zur Verfügung gestellt. Ebenso Krankenhäuser und medizinische Einrichtungen für Behinderte.

Diese sozialen Aktivitäten haben dem Königshaus mittlerweile viel Sympathie vor allem bei den jungen Marokkanern eingebracht. Zudem hat die zunehmende Kontrolle dubioser Geldströme - sowie das Einfrieren verdächtiger Konten - den Spielraum islamistischer Aktivitäten bereits eingeschränkt.

Mourad Kusserow

© Qantara.de 2004