Unter dem Dach des Baobab

Seit mehr als zwei Jahrzehnten setzt sich Helene Schär für die Vermittlung eines differenzierten Bildes von Menschen aus fremden Gesellschaften und Kulturen in der Kinder- und Jugendliteratur ein. Sie ist Mitbegründerin des Kinderbuchfonds Baobab. Eva Massingue hat mit ihr gesprochen.

Bücherprospekt von Baobab
Bücherprospekt von Baobab

​​Begonnen hatte Helene Schärs Engagement beim Katalog Fremde Welten. Seit 1975 gibt die Entwicklungshilfeorganisation Erklärung von Bern (EvB) diese Empfehlungsliste heraus. Helene Schär war anfangs Mitglied einer Gruppe, die für die Liste Medien prüft. 1980 übernahm sie Koordination und Redaktion der Broschüre und baute mit anderen den Kinderbuchfonds Baobab auf, der heute von terre des hommes Schweiz und der EvB getragen und von schweizerischen Hilfswerken und Bundesstellen mitfinanziert wird. Sein Ziel: qualitativ hochwertige Literatur von Autoren und Autorinnen aus Afrika, Asien und Lateinamerika in deutschsprachigen Erstausgaben herauszubringen. Bisher erschienen 45 Bücher. Helene Schär erhielt 1992 den Schweizer Jugendbuchpreis, eine Ehrung, die sonst nur SchriftstellerInnen zuteil wird.

Gibt es bei der Zusammenstellung des Katalogs Fremde Welten nicht auch Unstimmigkeiten? Trotz objektiver Kriterien zur Bewertung der Bücher gibt es doch auch persönlichen Geschmack. Wer entscheidet denn, ob ein Buch als empfehlenswert in die Liste aufgenommen wird?

Helene Schär: Wir haben viele Diskussionen, denn heute erscheinen kaum noch eindeutig rassistische Bücher. Kulturüberheblichkeit und Diskriminierung sind oft nicht auf Anhieb erkennbar. Es bedarf viel Erfahrung und Scharfblick. Dann muss auch abgewogen werden, ob die Negativpunkte eines Buches den positiven gegenüber tatsächlich überwiegen oder ob nicht ein Buch, auch wenn es keinesfalls lupenrein ist, trotzdem einen wertvollen Beitrag zum Verständnis für eine fremde Gesellschaft leistet. Entscheidungen werden in der Regel im Kollektiv, nach langen, manchmal sehr hitzigen Diskussionen, gefällt. Die letzte Entscheidung fällt die für die Redaktion verantwortliche Person.

Nach welchen Kriterien bewerten die Lesegruppen die Bücher?

Schär: Die Kriterien, die uns als Arbeitsinstrumente dienen, wurden vor 25 Jahren vom Council on Interracial Books for Children in New York aufgestellt. Wir haben sie damals mit nur wenigen Abweichungen an europäische Verhältnisse angepasst. Ungefähr alle zwei bis drei Jahre überprüfen wir sie und verändern sie gegebenenfalls.

Wo finden Sie die Bücher für die Baobab-Reihe und welchen Ansprüchen müssen die Bücher genügen?

Schär: Die Suche gestaltet sich schwierig, es gäbe bestimmt mehr Bücher, die es wert wären, in deutscher Übersetzung angeboten zu werden. Das Schwierige ist vor allem, dass die meisten Verlage im Süden über kein Agenturnetz verfügen, so dass ich selber auf die Suche gehen muss. Da sind alle wichtig, die sich mit Literatur aus dem Süden befassen, allen voran natürlich die Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika. Da habe ich schon viele Hilfeleistungen erhalten, und dies immer rasch und selbstverständlich.

Aber in vielen Ländern des Südens ist Kinder- und Jugendliteratur eine Gattung, die immer noch im Aufbau begriffen ist. Für mich sind daher Buchmessen, Begegnungen mit VertreterInnen von Kultur- und Literaturinstitutionen und AutorInnen aus südlichen Ländern von größter Bedeutung.

Ein Baobab-Buch muss literarisch dem im Allgemeinen hohen Niveau der deutschen Kinder- und Jugendliteratur standhalten. Baobab-Bücher dürfen nicht einfach „nur“ Lesefutter sein, sondern müssen sich durch einen besonderen Inhalt, eine besondere Art der Vermittlung auszeichnen und nach Möglichkeit auch etwas von ihrer Herkunft aussagen. Wichtig scheint mir das auch, weil der Kinderbuchfonds Baobab im Augenblick fast die einzige Institution ist, die überhaupt solche Literatur anbietet.

Sind Sie frei in der Wahl der Baobab-Bücher?

Schär: Für die Auswahl der Bücher steht mir eine kleine Gruppe von Leuten zur Seite, die Bücher und Texte im Original lesen. Für Sprachen wie Farsi, Arabisch oder Indonesisch muss ich mich an Fachleute wenden, wobei es auch nötig ist, dass sie eine Ahnung von Kinderliteratur haben. Wichtig dabei ist, was hier eine Absatzmöglichkeit findet, denn die Baobab-Bücher müssen sich ja auch verkaufen.

Die Entscheidungen habe bis jetzt ich getroffen, wobei mir Anna Katharina Ulrich, eine sehr erfahrene und kompetente Kinder- und Jugendliteraturspezialistin, die auch Mitbegründerin der Baobab-Reihe war, zur Seite stand. Sie ist leider letztes Jahr tödlich verunglückt, und dies bedeutet für mich auch menschlich einen großen Verlust. Meine Entscheidungen lege ich dem Verleger vor und in der Regel werden sie respektiert.

Warum hat der Kinderbuchfonds zwei Mal den Verlag gewechselt?

Schär: Das ist ein Spiegel der Verlagslandschaft. Lamuv war vor 15 Jahren der einzige Verlag, der bereit war, so etwas Risikoreiches wie die Baobab-Reihe zu verlegen. Zu Nagel & Kimche wechselten wir aus praktischen Gründen. Weil Lamuv sonst kein Kinder- und Jugendbuchangebot hat, gelangten wir mit unserem kleinen Jahresangebot nie in die einschlägigen Abteilungen der Buchhandlungen, obwohl wir ein sehr gutes Presseecho hatten.

Nagel & Kimche mit seinem gut eingeführten Kinder- und Jugendbuchangebot brachte der Reihe einen richtigen Aufschwung. Dann wurde der Verlag verkauft und der neue Besitzer setzte in seinem Programm andere Schwerpunkte. Atlantis schließlich gehörte der Nonprofit-Institution Pro Juventute an. Diese Kombination, zusammen mit dem Verlagsleiter Urs Gysling, der sich wirklich sehr viel für Baobab einsetzte, war ideal.

Vor einem Jahr wurde Atlantis pro juventute vom Orell Füssli Verlag aufgekauft. Was hat sich damit für den Kinderbuchfonds geändert?

Schär: Geändert hat sich, dass Urs Gysling inzwischen nicht mehr bei Orell Füssli ist und mein neuer Ansprechpartner Hans ten Doornkaat wurde. Es beginnt eine erneute Aufbauarbeit und ich wünschte mir eigentlich, mich auf die Baobab-Bücher konzentrieren zu können in einem Rahmen, der nicht immer verändert wird. Der Kinderbuchfonds Baobab ist verantwortlich für die Herausgabe der Baobab-Bücher: Er bemüht sich um die Übersetzung, das Lektorat, um Vor- und Nachworte und Glossare und liefert ein satzfertiges Manuskript ab. Der Verlag bezahlt nur die Übersetzung, sofern sie nicht gefördert wird, und die Lizenzkosten.

Unterstützung ist bei einer so speziellen Literatur sehr wichtig, sonst würde sie überhaupt nicht verlegt. Mein Ziel ist es aber, dass Kinder- und Jugendliteratur aus dem Süden den gleichen Stellenwert hat wie alle anderen Kinder- und Jugendbücher, dann wäre eine besonders geförderte Baobab-Reihe nicht mehr notwendig.

Wie erklären Sie sich, dass immer noch die meisten Kinder- und Jugendbücher über die Länder des Südens von Autoren und Autorinnen aus dem Norden geschrieben werden, die das vor dem Hintergrund ihrer eigenen Wertmaßstäbe tun?

Schär: Bis noch vor 30 Jahren kannte unsere Jugend überhaupt kein Kinder- oder Jugendbuch, das von einem Autor oder einer Autorin aus dem Süden geschrieben worden wäre.

Ich vermute, dass dieser Umstand einerseits mit tiefsitzenden Vorurteilen gegenüber Menschen aus dem Süden zusammen hängt. Vor allem wenn es sich um Kinder und Jugendliche handelt, bestehen große Vorurteile und Skepsis. „Können die überhaupt für unsere Jugend so schreiben, dass sie verstanden werden? Können wir das nicht viel besser, weil wir unsere Jugend kennen?“ Dass allerdings unsere Jugend geradezu überschwemmt wird von Literatur aus Nordamerika, darüber hat sich noch niemand auch nur gewundert, schon gar nicht gefragt, ob diese Autoren denn verständlich genug schreiben. – Und damit komme ich zum zweiten Punkt:

Die Geschäftsbeziehungen zwischen Verlagen spielen sich im Norden ab. Hier werden die Titel angeboten, werden Koproduktionen geplant, sind die Agenturen tätig. Wenn Henning Mankell ein Buch schreibt, das in Mosambik spielt, wird es sofort in alle europäische Sprachen übersetzt. Wenn Meja Mwangi ein wunderbares Jugendbuch schreibt, das in Kenia spielt, dann ist es gerade mal bei Baobab auf Deutsch erschienen und wir haben Glück, wenn es irgendwo anders übersetzt wird. Es ist nicht einmal in Europa in Englisch verfügbar, weil es in Kenia erschienen ist und die englischsprachigen Rechte den Weg nach England nicht gefunden haben.

Oft wird eine afrikanische oder arabische Geschichte von europäischen Illustratoren bebildert, weil die Verleger die außereuropäischen Bilderwelten für nicht kompatibel halten. Wie sieht das Baobab?

​​Schär: Genau aus diesem Grund wollen wir die Bücher nur von Künstlern aus den entsprechenden Ländern illustrieren lassen. Das bedeutet auch, dass nur wenige Bilderbücher erscheinen können, weil das Verkaufsrisiko hier noch ungleich größer ist. Wir haben unsere Sehgewohnheiten, und künstlerisch anspruchsvolle Bücher, die sich abheben von Disney-Inspirationen, fordern vor allem die Erwachsenen, die ja doch in der Regel die KäuferInnen der Bücher sind, zu einer Neuorientierung auf.

Wenn uns aber ein Buch besonders anspricht, dann scheuen wir das Risiko nicht. Das Notizbuch des Zeichners von Mohieddin Ellabad, mit dem ich fast 15 Jahre "schwanger" ging, hat sich doch gelohnt und stößt sogar auf große Resonanz; es war im letzten Jahr gar für den Jugendliteraturpreis nominiert.

Sie haben einige Jahre selbst im Ausland, in Italien, gelebt, sprechen mehrere Sprachen und kennen das Gefühl des „Fremdseins“ aus eigener Erfahrung. Hat Sie das für die Arbeit besonders sensibilisiert?

Schär: Ich glaube schon. Ich habe einige Zeit gebraucht, bis ich mich in Rom, wo wir uns für längere Zeit niederließen, zurechtfand, bis ich verstand, dass zum Beispiel ein „ja“ durchaus auch „nein“ heißen konnte. Ich, die „senkrechte“ Schweizerin, nahm alles eins zu eins und merkte erst allmählich, wie relativ die Welt und das Leben sind. Das war aber eine sehr wichtige und gute Erfahrung, die mir immer wieder hilft.

Was wird 2004 erscheinen?

Schär: 2004 wird die arabische Welt Ehrengast der Frankfurter Buchmesse sein. Darum war ich besonders bemüht, aus diesem Raum ein Buch zu finden. Der Autor Tarik Bary kommt aus Kairo, legt mit Der König der Dinge sein erstes Kinderbuch vor, dem hoffentlich noch einige folgen werden. Ich lernte ihn bei einem Workshop, den das Goethe-Institut und Pro Helvetia in Kairo zu Kinderliteratur im Austausch veranstalteten, kennen. Er ist sehr witzig, fantasievoll und hat einen guten Draht zu Kindern. Das Buch wird einer der ersten Kinderromane aus Ägypten in deutscher Sprache sein, darüber freue ich mich.

Das zweite Baobab-Buch ist ein neues Bilderbuch von John Kilaka aus Tansania, der mit Frische Fische ein sehr erfolgreiches und äußerst humorvolles Bilderbuch vorgelegt hat, das bereits in zweiter Auflage erschienen ist.

Interview: Eva Massingue

© LiteraturNachrichten 2/2004

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Verlag Nagel & Kimche
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