Wo sind die arabischen Krimis?

Seit seiner Entstehung vor über 150 Jahren hat sich der Kriminalroman in der westlichen Welt zu einem der produktivsten Prosagenres entwickelt. Wie bei allen Geschichten geht es auch und gerade beim Krimi darum, der Langeweile des Alltags zu entgehen.

Von Stefanie Gsell

Foto: 'Crime Time', &copy Illuscope
Der arabischen Krimiliteratur muss Raum für Abweichungen vom Patenmodell zugestanden werden, das die westlichen Gesellschaften vorgeben, argumentiert Stefanie Gsell

​​Der Krimi-Fan Bertolt Brecht erklärte, "ein Abenteuerroman könnte kaum anders geschrieben werden als ein Kriminalroman: Abenteuer in unserer Gesellschaft sind kriminell." Den intellektuellen Genuss sah er vor allem in der Denkaufgabe, die dem Detektiv und damit dem Leser gestellt wird.

Doch die Lust am Rätseln und auf Abenteuer erzeugt nicht zwangsläufig Krimiliteratur. Auch für die arabische Erzählkunst ist sie unverzichtbar, abgesehen aber von Groschenheften oder auch Radiohörspielen, fehlen originär arabische Krimis.

Das erstaunt, wo doch arabische Übersetzungen der Agatha-Christie-Krimis sich bis heute einer breiten Leserschaft erfreuen. Häufig enthält arabische Literatur Krimi-Elemente. Auch gibt es literarisch anspruchsvolle Krimis von arabischen Autoren, so die des Algeriers Yasmina Khadra und des Marokkaners Driss Chraïbi, aber sie schreiben in französischer Sprache. Was steht der Entwicklung dieser Literaturgattung in der arabischen Welt entgegen?

Türkische Krimikultur – ein Exkurs

Einen Erklärungsansatz bietet der Blick ins islamische Nachbarland. In der Türkei werden bereits seit einem ganzen Jahrhundert Krimis geschrieben, doch sind diese, so der türkische Krimiautor Ahmet Ümit, Kopien angelsächsischer Vorlagen und wenig originell.

Seit einiger Zeit jedoch kann eine stetig wachsende türkische Leserschaft literarisch sowie inhaltlich sehr originelle Krimis goutieren, wie Ahmet Ümits „Nacht und Nebel“, dieses Jahr in Übersetzung im Unionsverlag erschienen. Was macht den Krimi für eine Gesellschaft reizvoll? Ahmet Ümit erklärt das gesteigerte Interesse der Türken an Krimiliteratur durch gesellschaftlichen Wandel:

"In der Türkei war die Kriminalkultur eine feudalistische Kultur. Zwar gibt es einen rechtlichen Rahmen, aber im Volk verbreitet ist der kurze Weg nach dem Motto 'Auge um Auge, Zahn um Zahn' ... Wenn jemand Ihren Bruder tötet, dann töten danach Sie den Täter – öffentlich. Da ist kein Raum für Kriminalromane, nichts ist geheim."

Entstehungsursachen für Krimis im Orient

Doch seit den 80er Jahren, so Ümit weiter, seien in der gesamten Türkei die Auswirkungen der Industrialisierung zu spüren. Damit wurden, besonders in den Großstädten, die traditionellen Werte durch kapitalistische ersetzt: Geld und Gewinn – was dem Kriminalroman überhaupt erst den Boden bereitet habe.

Säkularisierung sowie Individualisierung und gesellschaftliche Isolation in der westlichen Welt und ein daraus entstandenes Bedürfnis, Ächtung und Bestrafung von Übeltätern zumindest mittels der Literatur erfahren zu können, mögen Gründe für die Entstehung des Kriminalromans sein. Wichtiger noch war jedoch die Schaffung staatlicher Rechtssysteme in Europa und in den USA im 18. Jahrhundert.

Erst nachdem der Indizienbeweis in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das durch Folter erpresste Geständnis ersetzte, konnte das Denkverfahren einer kriminalistischen Ermittlung zum literarischen Thema werden.

Der bekannte syrische Autor Rafik Schami, der in Deutschland lebt und seine Bücher auf Deutsch veröffentlicht, nennt die pluralistische Gesellschaft und den demokratischen Rechtsstaat Bedingungen für das Auftreten von Krimi-Literatur. Aus der Tatsache, ob und in welchem Umfang sie in einer Gesellschaft vorhanden ist, könne man Rückschlüsse über das Ausmaß von Demokratie und Freiheitlichkeit in ihr ziehen.

"Die Frage ist das Kind der Freiheit", formuliert Rafik Schami. Der Detektiv muss das Recht haben, wen auch immer zu jedwelchem Thema zu befragen – undenkbar in der arabischen Welt. Kaum glaubwürdig wäre ein muslimischer Ermittler bei einem Verbrechen, das in christlichem Umfeld geschieht oder ein einfacher Kommissar, der Funktionären des Regimes auf den Zahn fühlt.

In seinem Roman "Die dunkle Seite der Liebe", erschienen 2004 im Carl Hanser Verlag, hat Schami diese Problematik zum Thema gemacht. Die Ermittlungen in einem Mordfall führen den jungen Damaszener Oberleutnant Barudi in höchste Geheimdienstkreise. Der Chef des Staatssicherheitsdienstes persönlich fordert die Herausgabe der Akte und entzieht ihm den Fall. Heimlich ermittelt Barudi weiter...

Demokratie und Krimiliteratur

Auch in Ahmet Ümits Roman "Nacht und Nebel" ist die Kritik an der Staatsgewalt, die demokratische Grundsätze verhöhnt und dadurch behördliche Ermittlungsarbeit ad absurdum führt, das treibende Thema der Kriminalgeschichte. Möglich ist dies, da die Maßstäbe, nach denen in der Türkei zensiert wird, allmählich immer lockerer wurden.

Vielleicht ist es mit dem Auftreten von Krimiliteratur wie mit der Zupassung demokratischer Werte: gesellschaftliche und politische Prozesse müssen ablaufen, das braucht Zeit, und es muss Raum für Abweichungen vom Patenmodell, das die westlichen Gesellschaften vorgeben, zugestanden werden.

Das bedeutet nicht, dass Impulse aus westlichen Erfahrungshorizonten per se unterdrückt werden sollen, Anregungen sind vielerorts erwünscht. So betont Ahmet Ümit, Übersetzungen einschlägiger Krimis aus dem Westen und Kontakte türkischer Verleger zu ausländischen Kollegen hätten viel zur Verbreitung der türkischen Krimiliteratur beigetragen:

Man darf wohl gespannt sein, wann und in welcher Gestalt der Kampf gegen das Böse, geführt auf Arabisch, die Herzen der arabischen Leser erobern wird.

Von Stefanie Gsell

© Qantara.de 2005

Qantara.de

Unionsverlag
Arabische Literatur von großen Autoren
Seit über zwanzig Jahren verlegt der Schweizer Unionsverlag außereuropäische Literatur. Auch eine beachtliche Anzahl arabischer AutorInnen sind im Programm. Martin Zähringer hat die Bücher gelesen und sich mit dem Verlagsleiter unterhalten.