Lethargie als politische Einbahnstrasse

Amr Hamzawy fordert die linken und liberalen Bewegungen in der arabischen Welt auf, sich deutlicher als zuvor an ihre Bevölkerungen zu wenden. Ägyptens Kifaya-Bewegung sieht er dabei als Vorreiter einer Renaissance der laizistischen Kräfte.

Der ägyptische Wissenschaftler Amr Hamzawy fordert die Vertreter der linken und liberalen Bewegungen in der arabischen Welt dazu auf, sich wieder mehr an die Bevölkerung in ihren jeweiligen Ländern zu wenden und diese mit ihren politischen Forderungen für sich zu gewinnen. Dabei sieht er die ägyptische Kifaya-Bewegung als Vorreiter einer Renaissance der laizistischen politischen Kräfte.

Kifaya-Anhänger protestieren gegen ein neues Wahlgesetz in Ägypten; Foto: AP
Vorbild für neue linke Protestbewegungen? Anhänger der "Kifaya"-Bewegung protestieren gegen ein neues Wahlgesetz in Kairo

​​Wir haben uns daran gewöhnt, den Misserfolg der liberalen und linken Parteien bei den vergangenen Wahlen in den arabischen Ländern ausschließlich auf zwei Gründe zurückzuführen:

Zum einen auf den Prozess der Islamisierung, den die meisten unserer Gesellschaften seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts erleben und im Zuge derer religiöse Strömungen eine breite Basis in der Bevölkerung erreicht haben und laizistische Organisationen nunmehr nur noch eine Nebenrolle spielen.

Zum anderen auf die Schwächung linker und liberaler Parteien und die mangelnde Durchschlagskraft ihrer politischen Botschaften aufgrund von Repressionen der herrschenden Systeme und eines nicht vorhandenen Pluralismus.

Diese Erklärungen, so stichhaltig sie zunächst erscheinen mögen, negieren jedoch die Komplexität der tatsächlichen gesellschaftlichen Wirklichkeit. Um die zukünftigen Möglichkeiten und Grenzen der laizistischen Organisationen bei der Weiterentwicklung der arabischen Politik erfassen zu können, sind ausführlichere Betrachtungen notwendig.

Zunächst ist, trotz der Berücksichtigung der sich verstärkenden Tendenz des Religiösen in der arabischen Welt, der Hinweis auf die Islamisierung allein unzureichend und beschreibt nur einen Aspekt des gegenwärtigen Wandels in unseren Gesellschaften.

Die Dominanz der westlichen Lebensweisen in den Ballungszentren, die Verbreitung der Konsumkultur, zunehmende Armut, Korruption und die Zerrüttung gesellschaftlichen Lebens in einer vorher nicht da gewesenen Weise sind weitere, wichtige zu nennende Phänomene.

Gerechtigkeitsfrage als religiöse Angelegenheit

Diese Phänomene bieten theoretisch die Grundlage für die Entwicklung liberaler und linker politischer Bewegungen und deren Unterstützung durch breitere Bevölkerungsschichten. Dabei würde sich der liberale Gedanke durch die Verteidigung persönlicher und bürgerlicher Freiheiten gegenüber der Logik religiöser Verbote äußern, wogegen der Drang nach sozialer Gerechtigkeit und dem Schutz von Randgruppen traditionell linke Politik widerspiegeln würde.

Merkwürdigerweise ist davon in den arabischen Gesellschaften kaum etwas zu entdecken. Vielmehr haben sich die islamischen Bewegungen der Gerechtigkeitsfrage angenommen und sie zu einer in erster Linie religiösen Angelegenheit umformuliert.

Auch in Bezug auf die allmählich immer stärker thematisierte Freiheitsfrage wurde den laizistischen Organisationen der Boden unter den Füßen weggezogen. Das Problem muss also vor allem darin gesehen werden, dass diese Kräfte nicht in der Lage sind, eine politische Strategie zu entwerfen und ein attraktives politisches Programm zu entwickeln, mit denen sie weite Kreise der Bevölkerung für sich gewinnen könnten.

Die Verantwortung dafür ausschließlich den Repressionen der jeweiligen Machthaber zuweisen zu wollen, trifft nicht den Kern des Problems. Tatsächlich hat es in der Vergangenheit auch repressive Regimes im Namen weltlicher Ideologien gegeben, wodurch die liberalen und linken Parteien in ihren Grundfesten erschüttert und schwerwiegend um die Überzeugungskraft ihrer politischen Ideologien gebracht wurden.

Mangelnde gesellschaftliche Verwurzelung

Zusätzlich führte die Schwächung der Mittelschichten in den arabischen Gesellschaften dazu, dass sich liberale Bewegungen in der sozialen Landschaft nicht etablieren konnten. Für die Linke andererseits kamen die Gewerkschaften, aufgrund der Kontrolle durch die jeweiligen Machtregimes, als strategischer Partner meist nicht in Frage.

Auch trifft zu, dass sich linke und liberale Bewegungen häufig mit den jeweiligen Regimes arrangieren und mit ihnen kooperieren – ganz im Gegensatz zu den religiösen Bewegungen. Sie umgingen die Repression, indem sie sich in die Mitte der Gesellschaft begaben und dort Raum für weitgehend unabhängiges Handeln vorfanden – sei es im Bereich der religiösen Propaganda oder der sozialen Wohlfahrt.

Die religiösen Bewegungen vereinigten eine breite Basis innerhalb der Bevölkerung, die sie unterstützte und ihre politischen Botschaften in den Städten und auf dem Land weiter verbreitete, was durch die gegenwärtigen Erfahrungen der Parlaments- oder Regionalwahlen in vielen arabischen Ländern bestätigt wird.

Die laizistischen Kräfte hingegen kapselten sich von der breiten Bevölkerung immer mehr ab. Sie versuchten entweder, sich durch ein Mindestmaß an Kooperation mit den regierenden Systemen in der politischen Landschaft zu halten oder sie zogen sich ganz zurück.

Letzteres trifft besonders auf die jüngere Generation arabischer Liberaler und Linker zu, die seit den 80er Jahren einen zivilen Bereich zwischen dem Staat und seinen Institutionen einerseits und den Bürgern andererseits etabliert haben. Hier bildeten sie Organisationen, die sich mit Rechtsfragen befassten, und intellektuelle Diskussionszirkel.

Geschlossene Gesellschaften

Obwohl sich die politische Linke in diesen Zirkeln wichtigen Problemen, wie z.B. den Menschenrechten, der Verbreitung und der Teilnahme an der demokratischen Kultur widmete, hatten sie nach außen hin einen elitären Charakter. Die Unterstützung durch die Öffentlichkeit blieb ihnen daher versagt. Sie wurden als "geschlossene Gesellschaften" betrachtet, die sich in der Formulierung ihrer Ziele außerhalb ihrer eigenen Grenzen nicht verständlich machen konnten.

Im fehlenden Mut zum politischen Widerstand, dem daraus folgenden Buhlen um die Gunst der Machthabenden einerseits sowie dem fluchtartigen Verlassen der politischen Bühne und der Fokussierung auf die Zivilgesellschaft andererseits, liegt also das eigentliche Problem begründet.

In den letzten Jahrzehnten waren dies die strategischen Optionen der weltlichen arabischen Kräfte. Beide Optionen verursachten jedoch faktisch das Verschwinden von der politischen Bühne, in der nunmehr die herrschenden Systeme sowie islamischen Strömungen das Monopol haben.

Mittel und Wege zur Regeneration

Die Hauptverantwortung für den Misserfolg der Liberalen und der Linken liegt also offenkundig bei ihnen selbst. Sie müssen Wege finden, um ihre gegenwärtige Schwäche zu überwinden. Dabei ist eine grundlegende und kritische Überprüfung ihrer Möglichkeiten unter den Bedingungen der politischen Landschaft in der arabischen Welt entscheidend.

Ich bin davon überzeugt, dass es dafür drei entscheidende Chancen gibt. Unter der Voraussetzung, dass sich keine radikalen Veränderungen in den bestehenden Machtstrukturen ergeben und dass diese Chancen tatsächlich wahrgenommen werden, bieten sie den laizistischen Bewegungen die Möglichkeit, sich in naher Zukunft zu regenerieren.

Eine erste Aufgabe wäre es, aus dem Kokon der Zivilgesellschaft zu schlüpfen und neue politische Bewegungen und Parteien zu gründen. Diese sollten sich Fragen der Freiheit (Liberale) und der Gerechtigkeit (Linke) annehmen und diese, gestützt auf der Basis von Zivilgesellschaft und Menschenrechten, öffentlich thematisieren und dabei auf Reformen abzielen.

Dabei darf es zunächst nicht darum gehen, den anderen, sei er Regierungstreuer oder Islamist, völlig abzulehnen. Vielmehr muss es darum gehen, mit ihnen zu streiten und Druck auf sie auszuüben, um sie dazu zu bewegen eine offenere Politik in Hinblick auf Freiheit und Gerechtigkeit zu verfolgen.

Bei realistischer Einschätzung der tatsächlichen Kraft der Liberalen und der Linken in den nächsten Jahren erscheint es höchst unwahrscheinlich, dass sie gleich zu ernstzunehmenden Konkurrenten in der arabischen Politik werden. Zudem macht sie ihre offenkundige Schwäche zu einer Zielscheibe für Repressionen seitens der Machthaber und bewirkt ebenso ein Gefühl der Unterlegenheit gegenüber den Islamisten.

Politische Partizipation und Aktivität gefordert

Das oberste Ziel muss also zunächst darin bestehen, mehr Vielfalt und Lebendigkeit in die politische Landschaft zu bringen. Linke und Liberale müssen versuchen, die Bevölkerung anzusprechen und sie allmählich für sich zu gewinnen. Die Erfahrungen der ägyptischen "Kifaya"-Bewegung und anderer neuer Protestbewegungen in den arabischen Gesellschaften liefern dafür ein nachahmenswertes Vorbild.

Die weltlich Orientierten sind also, trotz aller Probleme, die eine machtpolitisch erstarrte und generell immer stärker zum Religiösen tendierende Umgebung mit sich bringt, dazu aufgefordert, wieder politische Arbeit zu leisten. Nur durch ein Werben auf der Straße und das Wiedererlangen der Bereitschaft, für politische Ziele zu kämpfen, wird eine Unterstützung politischer Reformen durch breitere Bevölkerungsschichten möglich sein.

Die zweite Chance stellt die Teilnahme an kommunalen und überregionalen Wahlen dar, selbst dann, wenn es dort weder tatsächliche Konkurrenz noch Transparenz gibt. Denn selbst wenn es sich um Wahlen in faktischen Einparteiensystemen und mit fehlender Transparenz handelt, so gewinnen doch Parteien und oppositionelle Bewegungen, die dennoch daran teilnehmen, eine gewisse Dynamik.

Dadurch rufen sie sich und ihren politischen Auftrag den Bürgern wieder ins Gedächtnis. Linke und Liberale sind aufgefordert, ihr Programm, ihre politischen Botschaften und ihre Symbole auch wieder unter diesem Aspekt zu berücksichtigen.

Schließlich bietet die gegenwärtige politische Dynamik in einigen arabischen Gesellschaften eine historische Gelegenheit, einen neuen Weg einzuschlagen und neue Koalitionen mit den Reformern der regierenden Systeme und den Gemäßigten der islamischen Bewegungen zu bilden. So könnte letztlich ein übergreifender Konsens über die grundlegenden demokratischen Ideen entstehen.

Der Laizismus hat in den arabischen Gesellschaften derzeit so gut wie keinen Rückhalt mehr. Ungeachtet der jeweiligen Regime und der Popularität der Islamisten hat er trotzdem noch eine Chance. Die Laizisten könnten nämlich dann mit ihrer moralischen Glaubwürdigkeit punkten, wenn sich ihre Politik konsequent an den Idealen der Freiheit und der Gerechtigkeit orientieren würde – was die anderen Kräfte gerade vermissen lassen.

Amr Hamzawy

© Amr Hamzawy

Amr Hamzawy ist akademischer Mitarbeiter des "Carnegie Endowment for International Peace" in Washington.

Der Artikel erschien erstmals in der arabischen Tageszeitung "Al-Sharq Al-Awsat"

Aus dem Arabischen von Helene Adjouri

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