Meine Großmutter, die Selfie-Generation und ich

Wenn doch die Jugend ohne zugewanderte Eltern schon im Verruf steht, sich abzugrenzen und aufzulehnen, dann doch erst recht solche, mit einer hybriden Identität. Solche, dessen Eltern aus entfernteren Weltregionen kommen. Solche, wie ich es bin. Von Jenin Elena Abbas

Von Jenin Elena Abbas

Meine Eltern sind in Palästina geboren. Mein Vater kam als 19-Jähriger Ende der 1960er Jahre nach Deutschland, um zu studieren. Später kam meine Mutter hinzu. Meine Eltern kommen aus dem gleichen Ort. Ich gehöre zur zweiten Generation und für die dritte Generation deutsch-arabischen Daseins in der Familie habe ich schon gesorgt, denn ich habe nun selber einen fast einjährigen Sohn.

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie wir in Bremen in einer Diskussionsrunde saßen. Wir waren eine Gruppe junger arabischstämmiger Deutsche, in der Mitter saß ein älterer Herr aus Ägypten. Ich war noch sehr jung, kann mich aber gut daran erinnern, wie eine Jugendliche zu dem Mann sagte, es sei nicht mehr angebracht, sich Partner aus den Heimatländern der Eltern zu suchen. An das verdutzte Gesicht des Mannes kann ich mich noch gut erinnern, aber auch daran, dass sein Kopfschütteln uns kaum beeindruckte.

Wir waren mitten in einem Generationenkonflikt, der geprägt war durch die Geschichte unserer Familien, deren Erwartungen, Ängsten und Erfahrungen. Denn die Welt, in der unsere Eltern aufgewachsen sind, ist eine andere als die, in der wir heute leben.

Die Tradition der Eltern

Meine Eltern kommen aus einem kleinen palästinensischen Dorf, das seit über 60 Jahren nicht mehr existiert. Auch wenn sie selbst nicht dort aufgewachsen sind, sondern in einer großen palästinensischen Stadt, haben meine Großeltern ihre Werte und Traditionen an meine Eltern weitergegeben.

Vater Diab Abed vor dem Brandenburger Tor in Berlin 1967; Foto: privat
"Mein Vater hat sich damals entgegen der Erwartungen seiner Eltern dazu entschlossen, im Ausland zu studieren. Meine Großmutter konnte dies bis ans Ende ihrer Tage nicht akzeptieren. Ihrer Auffassung nach, solle er besser die Hühner füttern, als ein Leben so fern von ihr zu leben." - Vater Diab Abed vor dem Brandenburger Tor in Berlin 1967

Dazu zählt zum Beispiel, dass die Großfamilie einen hohen Stellenwert hat. Mehrere Generationen leben unter einem Dach oder neben einander. Kinder werden zu Respekt gegenüber den Älteren und zu Loyalität erzogen. Die nächste Generation ist Garant für die eigene Existenz im Alter. Ein staatliches Sozialsystem gibt es nicht. Wenn man die Kinder gehen lässt, dann nur, um sie irgendwann wieder nah bei sich zu haben.

Die Welt, in der ich aufgewachsen bin, besteht aus Kleinfamilien. Ich bin weder mit Großeltern, noch mit Onkel oder Tante aufgewachsen. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, dass ich jemanden kannte, dessen Großfamilie einen Einfluss auf ihr/sein Leben hatte.

Die Welt, in der ich aufgewachsen bin, hat den Anspruch, ihren Nachwuchs zu größtmöglicher Unabhängigkeit zu erziehen. Von früh auf zu lernen, Entscheidungen selbst zu treffen. Früh aus dem Elternhaus auszuziehen, Beziehungen einzugehen, in einer WG zu leben. Und den ersten Job zu bekommen, um auch eigenständig etwas zum Lebensunterhalt beizutragen. In der Welt, in der ich aufgewachsen bin, sind dies alles Erfahrungen, die gelebt werden sollen, um sich weiterzuentwickeln. Selbstbestimmung als höchstes Gut.

Interdependent versus Independent

In der Kulturpsychologie nennt man Gesellschaftsstrukturen, in denen Familienbeziehungen und die Gemeinschaft einen hohen Stellenwert innehaben, interdependent. Independent nennt man diejenigen Strukturen, die stärker auf dem Individuum basieren. Es sind also gegensätzliche Auffassungen vom Leben und somit auch von Erziehung, mit denen sich meine Familie über die Generationen hinweg auseinandergesetzt sah.

Für Einwanderer wie es meine Eltern sind, waren meine Geschwister und ich bestimmt nicht ganz der perfekte Nachwuchs, den sie sich wünschten. Arabisch haben wir in der Schulzeit kaum lernen wollen, die Wochenenden waren wir garantiert bis spät nachts unterwegs. Und unserer Verwandtschaft gegenüber waren wir wahrscheinlich zeit unserer Jugend nicht respektvoll genug.

Trotz alledem, stellt sich die Frage, ob wir uns tatsächlich nur im Generationenkonflikt befinden, weil unsere Familien eine Migrationsgeschichte haben? Lässt sich alles auf Kultur und Herkunft zurückführen oder hat sich das Palästina, Ägypten, die Türkei und all die anderen Herkunftsländer von früher schon längst verändert?

Wenn mein Vater damals im Sommerurlaub mit dem Taxi vor dem Haus seiner Mutter vorgefahren ist, waren zur Begrüßung dutzende Menschen da. Man kannte sich im Ort, man hat Nachbarschaftsverhältnisse gepflegt. Wenn jemand das Haus eines Freundes nicht gefunden hat, konnte er oder sie einfach in der Nachbarschaft nach dem Namen der Familie fragen. Damals hat sich die Nachbarschaft getroffen, um für die großen Feste, gemeinsam zu backen. Man hat sich Essen geteilt und hat für den anderen gesorgt.

All dies ist nicht mehr so. Auch dort haben sich das Leben und die Menschen, die unsere Eltern damals in ihrer Heimat zurückgelassen haben, verändert. Viele Familien leben aus persönlichen oder finanziellen Gründen nicht mehr nebeneinander oder unter einem Dach. Das Leben ist anonymer geworden; das Dorf als Herkunftsort ist nicht mehr entscheidend für soziale Beziehungen. Das Teilen, die Nachbarschaftspflege, die gemeinsamen Rituale. Vieles hat sich verändert.

Cousine Nour (links) mit der Autorin bei den Großeltern in Gaza Stadt, Palästina, 1989; Foto: privat
Leben in zwei Welten: Cousine Nour (links) mit der Autorin bei den Großeltern in Gaza Stadt, Palästina, 1989

Konflikte zwischen den Generationen bereits vor Jahrzehnten

Zudem gab es auch schon vor Jahrzehnten Konflikte zwischen den Generationen. Mein Großvater sprach wochenlang nicht mit meinem Onkel als er in den 1970er Jahren die Haare im ABBA-Stil länger wachsen ließ.

Mein Vater hat sich damals entgegen der Erwartungen seiner Eltern dazu entschlossen, im Ausland zu studieren. Meine Großmutter konnte dies bis ans
Ende ihrer Tage nicht akzeptieren. Ihrer Auffassung nach, solle er besser die Hühner füttern, als ein Leben so fern von ihr zu leben.

Meine nun 82-jährige alte Großmutter mütterlicherseits musste sich erst an die vielen Selfies gewöhnen, die ihre Enkelkinder machen. Und der Onkel mit den langen Haaren hat mittlerweile selbst einen sehr eigenwilligen Sohn, der sich trotz elterlicher Kritik in bester Hipstermanier die Haare und den Bart zurecht macht.

Ich bin mir sicher, dass ich nicht alles, was mein Sohn in 15 Jahren tun wird, verstehen werde. Vieles werde ich wahrscheinlich nur mit Kopfschütteln hinnehmen, unabhängig davon, wo und wie er genau aufwächst. Dem Selfie-Alter bin ich, beispielsweise, schon längst entwachsen und dementsprechend kann ich meine Großmutter gut verstehen. In zehn oder 20 Jahren wird es neue Medien und Trends geben, die sich wahrscheinlich auch mein Kind widmet, mir aber fremd sein werden.

Meiner Meinung nach gehört der Konflikt, oder besser gesagt der Dialog der Generationen, zum Lauf der Zeit. Er dient schließlich der eigenen und der gesellschaftlichen Weiterentwicklung.

Jenin Elena Abbas

© Goethe-Institut Kairo/"Perspektiven"

Jenin Elena Abbas, geboren 1983 in Oldenburg, hat einen Abschluss als Diplom-Politologin von der Hochschule Bremen und einen Masterabschluss in "Internationale Migration und Interkulturelle Beziehungen" von der Universität Osnabrück. Auslandssemester absolvierte sie an der San José State University in den USA sowie an der American University in Kairo, Ägypten. Sie ist Doktorandin an der Universität Osnabrück und freie Autorin.