"Yilmaz Güney hatte den Startschuss gegeben"

Gibt es ein authentisches kurdisches Kino, eine kurdische Filmsprache? Darüber unterhielt sich Amin Farzanefar mit Mehmet Aktas und Bülent Kücük vom Kurdischen Filmfestival Berlin.

Mehmet Aktas ist Direktor des Kurdischen Filmfestivals in Berlin, Foto: Kurdisches Filmfestival Berlin
Mehmet Aktas ist Direktor des Kurdischen Filmfestivals in Berlin

​​Seit 2002 veranstalten Sie jedes Jahr in Berlin das "Kurdische Filmfestival". Wie kam die Idee zu diesem Festival?

Mehmet Aktas: Es gab weltweit zunächst kein kurdisches Filmfestival. Damals hatte ich viel mit iranisch-kurdischen Regisseuren diskutiert, und sie haben mir Mut gemacht, dass ein neuer Prozess kurdischen Filmschaffens begonnnen hat.

Als ich 1998 Irakisch-Kurdistan besuchte, habe ich die Arbeiten kurdischer Filmemacher gesehen, die in der Welt kaum wahrgenommen wurden. Auch in Europa gab es viele Filmemacher, für die die kurdische Problematik ein wichtiges Thema ist.

Da all diese Filmemacher sehr verstreut waren, wollten wir ihnen eine internationale Plattform bieten, insbesondere für die Künstler aus jenen Staaten, in denen kurdisches Kino und auch kurdische Kultur immer noch verboten sind.

Und es gab eine weitere starke Motivation für mich: die politischen Aktivitäten von Kurden hatten so sehr das Bild geprägt, dass man nun etwas anderes machen musste. Wir wollten ganz separat von den ganzen kurdischen Vereinen und Parteien einen kurdischen Kulturverein gründen.

Nach dem ersten Festival haben wir dann gesehen: Es gibt ein kurdisches Kino, und es gibt auch Interesse an unserem Festival. Da wollten wir, dass die kurdischen Filmemacher untereinander in Austausch und Diskussion treten konnten, so dass sie noch klarer zu einer eigenen Sprache finden können – wie beispielsweise das iranische Kino.

Wenn man das zeitlich fasst: ab wann sehen Sie ein übergreifendes kurdisches Kino?

Aktas: Ganz am Anfang steht das türkische Kino Yilmaz Güneys – vor allem seine letzten Werke "Die Herde"(1978/79), "Der Weg" (1981), aber teilweise bereits sein erster eigener Film "Seyit Khan".

Vorher waren die Produktionen nicht wirklich kurdisch, die Sprache war nicht kurdisch, und Güney hatte hier mit seinen zwei wichtigsten Filmen –"Die Herde" und "Der Weg" (Yol) - den Startschuss gegeben: viele Elemente - wie die Musik, wie die Charaktere - unterscheiden sich stark von der Erzählweise des türkischen Kinos.

Auch visuell hat er eine andere Art, ein andere Sprache geschaffen. Sein politischer und künstlerischer Traum war, dieses Kino weiter zu entwickeln, er ist aber leider sehr früh gestorben.

Anfang der neunziger Jahr ist dann "Xece und Siyabend" in der Türkei gedreht worden, dort aber leider nicht auf den Markt gekommen; dann wurde "Mem und Zin" gedreht, das wichtigste kurdische Epos.

1992 hat Nizamettin Aric in Armenien "Ein Lied für Beko" gedreht, und 1994 entstand in Griechenland Ibrahim Selmans "Silent Travellers" - alles Filme in kurdischer Sprache, mit kurdischen Geschichten.

Nach dem ersten Golfkrieg gab es im irakischen Kurdistan die freie Zone. Dort haben junge Filmemacher angefangen, ihre Geschichten als Video- und Kurzfilme umzusetzen. Danach ist man auch aus dem Ausland nach Kurdistan gegangen; so ist "Hoffnung" von Janu Rojbiani entstanden, "Das brennende Paradies" von Aras Rashid, und vieles mehr.

Ein wichtiger Schritt war, dass die iranische Regierung ab 1998 angefangen hat, das ethnische Kino zu fördern. Seither gibt es in Iranisch-Kurdistan Bahman Ghobadi bzw. die ganze Ghobadi-Familie, Ali-Reza Rezai, Khosret Ressoul und viele andere jüngere Filmemacher.

Bülent Kücük: Man kann sagen: Bis 1999 war das Kino schwanger, und Ende der Neunziger wurde das Kind geboren. Und jetzt ist dieses Kino ganz authentisch, ganz "kurdisch". Die iranisch-kurdischen Filme beispielsweise unterscheiden sich vom typisch iranischen Kino darin, dass sie nicht so langsam sind – es gibt mehr Bewegung und Energie, mehr Geschichten und generell einen starken kurdischen Aspekt, der mit kurdischem Erbe, kurdischen Bergen, kurdischer Lebensart zu tun hat.

Und natürlich spielt, wenn man über kurdisches Kino spricht, auch das Exil eine sehr große Rolle: zum Beispiel der letzte Film von Hener Saleem in Frankreich, "Vodka Lemon" hat eine ganz eigene Art, anders als das französische Kino oder die armenische Perspektive, die auch im Hintergrund steht: der Versuch, eine eigene Sprache zu finden.

Es gibt verschiedene Ansätze und Perspektiven, die aber dennoch zusammenhängen. Funktioniert das in einem Festival oder habt ihr das Gefühl, ihr müsst noch mehr integrieren? Gibt es schon eine Einheit?

Aktas: Das ist ja das Schicksal der kurdischen Geschichte, des kurdischen Volkes: die Filmemacher – wie das Volk - kommen aus sehr verschiedenen Traditionen. Unsere Idee ist, erst einmal das gesamte Bild zu betrachten, anzusehen, was wir haben - und was sein kann.

Natürlich ist es nicht genug, dass wir kurdische Themen in kurdischer Sprache drehen: aktuell ist für uns am wichtigsten, wie man eine eigene Kinosprache findet. Und in der Szene spielt das Festival dabei auch eine große Rolle, weil wir oft Diskussionen während der Filmvorführungen haben.

Kurdische Veranstaltungen waren lange Zeit stark ideologisiert. Verändert sich das dahingehend, dass man sagt: die Kultur kommt erst mal vor der Politik?

Aktas: Die politische kurdische Bewegung hat nicht mehr viel Hoffnung, und das kurdische Volk überlegt jetzt: Was ist eigentlich in den letzten zwanzig Jahren passiert? Darüber gibt es eine Auseinandersetzung, und viele kurdische Intellektuelle diskutieren jetzt auf einmal über ein kurdisches Kino - und sie respektieren es inzwischen auch.

Kücük: das gesamte kurdische Volk ist dezentriert und fragmentiert. Das liegt natürlich auch an der Politik: die ganze politische Szene ist fragmentiert, zum einen schon wegen der geografischen Zerstückelung, zum anderen, weil es all diese miteinander konkurrierenden Parteien und Organisationen gibt.

Das ist andererseits auch ein Gewinn: so gibt es ganz verschiedene Bewegungen, Organisationen, Traditionen im Hinblick auf den Film, beispielsweise das Exil - jeder Filmemacher, der in Frankreich oder Deutschland lebt, hat in seinen Filmen eine gewisse deutsche oder französische Prägung.

Das macht alles auch ein bisschen reicher, aber die Frage ist tatsächlich, ob die Kultur über die Politik hinausgeht - ob man irgendwo einen öffentlichen Raum schafft, wo alle zusammenkommen können. Wenn einer irgendetwas organisiert, fragt man aber immer noch: Wer hat das gemacht?

Wir wollen uns für insgesamt alle Bewegungen öffnen, für alle Teile Kurdistans, alle Menschen, die dann tatsächlich auch ihre Filme zeigen können. Das ist uns weitgehend gelungen, aber man braucht noch ein bisschen Zeit, um zu zeigen, dass dieses Festival ein Ort für jeden ist.

Wie ist die Zusammenarbeit mit den Ländern, Staaten, Regionen, in denen die Kurden leben? Gibt es dort ein Interesse? Wird in der Türkei beispielsweise über das Festival berichtet?

Kücük: Nur in den prokurdischen Medien, manchmal hat Cumhuriyet etwas geschrieben – meistens negativ, sie müssen etwas Negatives finden, damit sie berichten können – einen Skandal beispielsweise. Wenn etwas Positives passiert, dann bezeichnet man das nicht als "kurdisch" – wenn Yüksel Yavuz einen Preis bekommt, dann ist er eigentlich ein "Türke."

Aktas: Aber wenn er Drogen verkauft, ist er ein "Kurde".

Yüksel Yavuz ist bekannt als Regisseur von deutsch-türkischen Filmen wie "Aprilkinder" und "Kleine Freiheit." Ist es für ihn denn wichtig, sich auch von seiner kurdischen Seite zu präsentieren oder einzubringen?

Aktas: 2003 haben wir mit seinem Film eröffnet, er ist sehr engagiert, für ihn ist schon ganz klar, dass er ein kurdisch-deutscher Filmemacher ist. Letztes Jahr hat er mit einem kurdischen Thema in Ankara gewonnen, mit "Kleine Freiheit".

Andererseits hat er aber das türkische Publikum, für das er sich auch interessiert. Das heißt, er hat zwei Publikumsgruppen - sogar drei. Dazwischen zu balancieren, ist ein bisschen problematisch, aber er hat es bisher geschafft.

Was hat sich geändert in den letzten zwei, drei Jahren? Hat sich die Richtung irgendwie verändert - oder hat sich eine Richtung herausgestellt?

Aktas: Seit 2003 kamen noch mehr Filme aus Irakisch-Kurdistan. Letztes Jahr zeigten wir "Before Dawn", die erste Produktion einer lokalen kurdischen Region, die offiziell unterstützt wurde. Insgesamt kommt immer mehr aus dem Irak und Iran.

Welche Bedeutung hat dabei Bahman Ghobadi, der iranische Regisseur von "Zeit der trunkenen Pferde" und "Verloren im Irak", der jetzt mit "Turtles can fly" einen neuen Festivalerfolg vorgelegt hat

Aktas: Nach Yilmaz Güney hat erst Ghobadi den kurdischen Film international wieder bekannt gemacht. Jeder seiner Filme ist sehr authentisch, sehr "kurdisch", und gleichzeitig hat er diese internationale emotionale Sprache geschaffen, die für uns so wichtig ist.

Er hat für das Festival Filme ausgewählt, hierher geschickt, und er ist jedes Mal gekommen. Für das zeitgenössische kurdische Kino ist Ghobadi die wichtigste Figur – er ist jung, hat noch viel Zeit, viele Filme zu machen, und er hat eine unglaubliche Energie.

Kücük: Das Problem liegt darin: Solange es keinen Ort, keine Institutionalisierung des kurdischen Kinos gibt - ich sage jetzt mal: einen Staat -, wird ein Yilmaz Güney kommen, dann nach zehn Jahren ein Ghobadi - und dann wieder nichts. Bisher ist es nur ein transnationaler Raum, in dem sich das Kino bewegt; unter anderem muss es eine kurdische Bourgeoisie geben, die diese Institutionalisierung unterstützt.

Aktas: Ich sehe das etwas anders. Aber wir sind jetzt in einem ganz anderen Prozess als zur Zeit von Güney. In der irakisch-kurdischen Region gibt es bereits ein Departement für kurdisches Kino, sie haben dieses Jahr fünf Filme gedreht, und sie haben einen Teil der Produktion, der Logistik übernommen, zum Beispiel für Hener Saleem und Manu Khalil, es gibt eine Unterstützung vor Ort. Und das ist ganz wichtig.

Spielt das "Mesopotamische Kulturzentrum" in Istanbul, das ja einige Filme unterstützt hat, auch eine Rolle?

Kücük: Das ist auch auf europäische Gelder angewiesen, die über Stiftungen in die Türkei fließen. In der Türkei selbst ist es aber immer noch problematisch. Die Kurden selbst haben wenig Kapital, und die Möglichkeiten sind begrenzt.

Jetzt gibt es im Irak tatsächlich eine Chance, eine staatliche Unterstützung zu schaffen - und dadurch entsteht vielleicht, wie Mehmet gesagt hat, ein Ort für kurdisches Kino, ein Markt. Es sind wieder die Menschen im Exil, die das vorantreiben: Sie haben bessere Möglichkeiten, bessere Ressourcen, eine bessere Ausbildung, und das könnte einen Schub bringen – auch vor Ort.

Ist in diesem Punkt der Vergleich mit dem palästinensischen Kino annehmbar, das ja auch sehr stark im Exil stattgefunden hat und trotzdem in den letzten Jahren eine international sehr erfolgreiche Ästhetik entwickelt hat?

Aktas: Die Palästinenser hatten immer mehr Chancen als die kurdischen Filmemacher, eine größere Lobby, mehr Geld, aber auch mehr Locations. Sie konnten immer in irgendeinem arabischen Land als Motiv im Hintergrund drehen.

Die kurdischen Filmemacher hatten diese Möglichkeit lange Zeit nicht. Wenn du im Exil bist, musst du immer schauen: Wo kann ich diesen Film drehen, wie kann ich die europäischen Produzenten überzeugen?

Interview: Amin Farzanefar

© Qantara.de 2005

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Bahman Ghobadi und das kurdische Kino
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Mit dem einfühlsamen Porträt einer jugendlichen Außenseiterin in "En garde" gewann die Hamburger Regisseurin Ayse Polat in Locarno den Silbernen Leoparden. Jetzt muss sie feststellen, dass ihre kurdische Herkunft für die deutsche Medienlandschaft oftmals interessanter erscheint als ihr Film. Ariana Mirza berichtet.

Amin Farzanefar
Kino des Orients - Stimmen aus einer Region
In seinem Buch "Kino des Orients" hat der Filmjournalist Amin Farzanefar Interviews mit Filmregisseuren aus der arabischen Welt sowie aus Iran und der Türkei zusammengetragen. Der Filmverleiher Ludwig Ammann stellt das Buch vor.

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Kurdisches Filmfestival Berlin