Zwischen Hoffen und Bangen

Seitdem das Erdoğan-Regime mit harter Hand gegen kurdische Städte und Oppositionspolitiker zu Felde zieht, werden auch zahlreiche Kulturschaffende in Ostanatolien von den Repressionen nicht verschont. Aus Diyarbakır berichtet Sonja Galler.

Von Sonja Galler

Hier lässt es sich leben. Das dachte ich, als ich 2008 das erste Mal nach Diyarbakır kam und wenig später beschloss zu bleiben: Die Millionenstadt am Tigris erschöpfte sich im Gegensatz zu vielen Städten des türkischen Ostens nicht in immer gleichen Einkaufszentren und öden kilometerlangen Häuserblocks, sondern besaß eine wuselige, wenn auch bitterarme Altstadt, eine aktive Zivilgesellschaft und eine behutsam wachsende Kulturszene: Es gab Theater- und Musikfestivals, zahlreiche Verlage und Buchhandlungen, lokale Filmemacher und Hobbyfotografen, NGOs und Sprachkurse für Kurdisch. Ausstellungen und Konferenzen setzten sich, wenn auch nicht immer im Geiste akademischer Objektivität, so doch voller Verve und Neugier mit der jüngsten Geschichte der Stadt und brennenden Zeitfragen auseinander.

Die Wüste lebt

Viele dieser Einrichtungen und Aktivitäten wurden mitgetragen und -finanziert von der kommunalen kurdischen Stadtverwaltung, die der wichtigste lokale Kooperationspartner für kulturelle Aktivitäten aller Art war und der es gelang, eine Atmosphäre der Offenheit zu schaffen.

“Hier wusste kaum einer um die Existenz von Malern und Bildhauern in der Stadt. Wir haben mit unseren Ausstellungen einen Beitrag dazu geleistet, dass Diyarbakır seine eigenen Künstler entdeckt hat”, berichtet Barış Seyitvan, der sieben Jahre lang die städtische "Amed"-Kunstgalerie koordinierte und in dieser Zeit dutzende nationale und internationale Ausstellungen, Panels und Workshops ermöglichte.

Selbst Bildender Künstler ist Seyithan auch ein Anstifter mit einer übervollen Agenda. Bis ihm zu diesem Jahresbeginn gekündigt wurde: "Wir wurden zum Ziel, weil wir im engen Kontakt zur Bevölkerung und in unseren eigenen Institutionen organisiert mit unserer Kunst Erfolg hatten."

Aufführungsplakat "Hamlet" des Stadttheaters Diyarbakır
Mut der Verzweiflung: Yavuz Akkuzu, Ensemble-Mitglied im Stadttheater Diyarbakır, Publikumsliebling und Hamlet-Darsteller, meint: "Man uns unsere Rechte genommen, indem man eine seit Jahrzehnten bestehende Truppe einfach vor die Tür gesetzt hat, aber vielleicht ebnet eben das den Weg zu einer unabhängigeren, stärkeren und politischeren Identität."

Wie auch in den anderen 50 Städten, in denen die Kommunalregierung zwangsabgesetzt und durch Stellvertreter aus Ankara ersetzt wurde, gehörte auch in Diyarbakır die Schließung von kommunal geförderten Kultur-, Sprach- und Frauenzentren zu einer der ersten Amtshandlungen des Stellvertreters – der nicht zuletzt durch die symbolträchtige Abhängung des kurdischen Städtenamens "Amed" sowie die Demontage eines Denkmals, das an die Opfer von Roboski erinnerte, seinen Einzug ins Rathaus markierte.

Neben dem Konservatorium "Aram Tigran" und dem Sprachinstitut "Kurdi-Der" steht auch das 30köpfige Ensemble des Stadttheaters Diyarbakır vor dem Aus, die seit 27 Jahren existiert und seit 2009 ausschließlich Bühnenstücke auf Kurdisch präsentiert. Für ein volles Haus hatten ihre Versionen von “Hamlet” und des kurdischen Epos "Mem und Zin" – mit viel Musik, Tanz und Witz auf die kurdische Gesellschaft gemünzt – gesorgt."

Der Rückfall in Zeiten, in denen alles Kurdische kriminalisiert wurde, ist nun wieder greifbar nah", meint auch Moran, der sich als Promotionsstudent mit der kurdischsprachigen Literaturszene des Landes beschäftigt. Nach dem Vorgehen gegen führende Politiker und politische Organisationen stünden nun die intellektuellen Köpfe der kurdischen Bewegung im Fokus: Die Entlassung zahlreicher kurdischer Akademiker im Zuge der Petition "Akademiker für den Frieden", die Schließung des Kurdischen Instituts Istanbul seien dafür Anzeichen. Nicht wenige begännen wieder, ihre kurdischsprachigen Bücher zu verstecken.

Ausnahmezustand als Normalität

Schwer angeschlagen ist Diyarbakır nicht erst seit dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 und dem verhängten Ausnahmezustand. Vor allem die 100 Tage dauernde militärische Operationen in der Altstadt Sur 2015/16 und die Flucht zehntausender Anwohner haben die Stadt in ihren Grundfesten erschüttert.

"Der Krieg in der Altstadt Sur hatte Einfluss auf jeden, keiner konnte sich ihm entziehen", meint İlham Yılmaz, Psychologe der "Menschenrechtsstiftung der Türkei". Man konnte zusehends beobachten, wie die Gewalt die Stadtstrukturen beeinflusste, so Yılmaz, sich der Bewegungsspielraum im konkreten wie übertragenen Sinne verkleinerte.

Denn wo soviel Unrecht geschah, konnte sich keiner sicher fühlen. Hinzu gesellte sich ein weiteres Gefühl – die Scham, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen, wenn wenige Kilometer Menschen starben.

Dass es kaum noch öffentliche Räume mehr dafür gibt, seinem Zorn oder Trauer angesichts dieser Verhältnisse Ausdruck zu verleihen, zeigte auch die zeitweilige Suspendierung von 4.000 Lehrern, deren einziges "Verbrechen" offenbar darin bestand, sich an einem von der Gewerkschaft "Eğitim Sen" organisierten Streik zu beteiligen, mit dem man auf die unhaltbare Lage hatte aufmerksam machen wollen.

HDP-Chef Selahattin Demirtas und die Co-Vorsitzende der pro-kurdischen Partei HDP, Fiden Yüksekdag; Foto: Reuters/Murat Sezer
Drakonische Strafen für kurdische Oppositionelle: HDP-Chef Selahattin Demirtas soll nach dem Willen der türkischen Staatsanwaltschaft bis zu 142 Jahre in Haft. Für die Co-Vorsitzende der pro-kurdischen HDP, Fiden Yüksekdag, forderte die Staatsanwaltschaft von Diyarbakir eine Freiheitsstrafe von 83 Jahren. Beide Politiker sitzen seit November wegen angeblicher Verbindungen zu kurdischen PKK-Rebellen in Haft. Insgesamt befinden sich derzeit elf HDP-Abgeordnete im Gefängnis und können nicht an der Parlamentsarbeit teilnehmen.

Zwar haben die suspendierten Lehrer, darunter auch bekannte Schriftsteller wie Renas Jiyan und Murat Özyaşar, ihre Stellen größtenteils wieder, doch die Angst sitzt tief. Still ist es geworden in Diyarbakır – in der Öffentlichkeit, den sozialen Medien und unter den Kollegen.

"Dass selbst Selahattin Demirtaş und andere Politiker eingesperrt werden, verängstigt die Menschen und lässt sie verstummen. Acht kurdische Städte wurden zerstört, es gab zahlreiche Verhaftungen und 53 Co-Bürgermeister wurden durch Stellvertreter ersetzt, viele Journalisten sitzen in Haft. Es gibt für Kurden keinen Raum mehr, um zu atmen", meint denn auch der Journalist und Filmemacher Salih Suleymani und spricht damit wohl vielen aus dem Herzen.

Trotz alledem

Weitermachen – das ist hingegen die Parole von Yavuz Akkuzu, Ensemble-Mitglied im Stadttheater Diyarbakır, Publikumsliebling und Hamlet-Darsteller: "Man hat uns unsere Rechte genommen, indem man eine seit Jahrzehnten bestehende Truppe einfach vor die Tür gesetzt hat, aber vielleicht ebnet eben das den Weg zu einer unabhängigeren, stärkeren und politischeren Identität."

Man habe zwei Räume angemietet, winzig der eine, noch ohne Bühne der andere, dort wolle man jedenfalls Theater- und Filmvorführungen, aber auch Unterricht für den Nachwuchs ermöglichen. "Wir haben nach der Kündigung einfach weitergearbeitet, zwei Inszenierungen sind bereits fertig konzipiert für die Bühne" – es handelt sich um Komödien.

Hoffnung trotz einer sich täglich verschlechternden Situation? Schon längst verlassen nicht nur politische Aktivisten und Gewerkschaftler, sondern auch Akademiker und Künstler das Land: Erst im vergangenen Dezember haben in Berlin 67 Intellektuelle, die aufgrund kritischer Äußerungen gegen das Regime Erdoğan die Türkei verlassen mussten, ein "Forum gegen Krieg und Diktatur und für den Frieden" gegründet. Wird das Exil also wieder in absehbarer Zeit zu einem Ort für die Freigeister der Türkei?

Sonja Galler

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