Vertane Chance für die Kunst

Während die Kunstbiennale eröffnet, liegt in Istanbul wieder der Geruch der Gewalt in der Luft. Kann eine Großausstellung auf die Sprache der Straße antworten und ihr Versprechen einer freien und modernen Gesellschaft einlösen? Catrin Lorch nimmt Istanbuls größtes Kunstereignis des Jahres unter die Lupe.

Von Catrin Lorch

Nachmittags wurde getwittert. Bei Protesten im Südosten der Türkei war der 22-jährige Ahmet Atakan zu Tode gekommen. Schon war man unterwegs zum Taksim-Platz, zum ersten Mal seit der gewaltsamen Räumung durch die Polizei Mitte Juni. In der Abenddämmerung wehte das Tränengas durch die Straßen Istanbuls. Ein Kunstkurator ließ seine eigene Vernissage platzen, um dabei zu sein. Fulya Erdemci, die künstlerische Leiterin der Istanbul-Biennale, die vor kurzem ihre Ausstellung der internationalen Presse zeigen sollte, bedauerte, nicht dabei gewesen zu sein.

Dass in Istanbul nun wieder "der Geruch der Gewalt" in der Luft liege, stellte sie beim ersten Rundgang durch ihre Ausstellung fest, die dreizehnte Ausgabe einer Kunst-Biennale, die seit ihrer Gründung vor gut einem Vierteljahrhundert immer eine hoch politische Angelegenheit war und die dieses Mal mit so viel Spannung erwartet wurde wie kaum eine andere Großausstellung in den vergangenen Jahren.

Schaumgeboren im Tränengas

Wenn Meinungsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft die große Welle ist, dann ist die Freiheit der Kunst die Schaumkrone obendrauf. Schaumgeboren im Tränengas dieses Sommers stand die Istanbul-Biennale nun da: nicht nur, weil die Kuratoren mit "Agoraphobia" - verstanden als Angst der Macht vor der Straße - im Winter ein Thema angekündigt hatten, das die Ereignisse des Sommers vorwegzunehmen schien; die zentrale Frage, so war es lange vor den Aufständen formuliert worden, sollte sein, wem eigentlich die Stadt gehört, und am Beispiel Istanbuls sollte die Gentrifizierung verhandelt werden: wie eine Stadt ihr kulturelles, architektonisches Erbe verspielt in einem neoliberalen Wahnzustand.

Schweigend gegen das System: Der Performancekünstler Erdem Gündüz erlangte im Sommer 2013 Berühmtheit durch seinen stillen Protest auf dem Taksimplatz, während die Istanbuler Innenstadt im Rahmen der Gezi-Park-Proteste im Chaos versank.

Zudem hatte Fulya Erdemci versprochen, der Biennale die Straße wieder zu erschließen, nachdem die letzte Ausgabe eine hermetische Hochkunstschau gewesen war. Sogar Gezipark und Taksim-Platz waren eingeplant. Vom Atatürk Cultural Center aus wollte die Amsterdamer Künstlergruppe Rietveld Landscape ein sanft glühendes Lichtband auf den wichtigsten Verkehrsknotenpunkt der Stadt werfen, wo gerade Platz gemacht wird für eine repräsentative Bebauung, ob Shopping Mall, Mega-Moschee oder barockes Opernhaus. Einen besseren Moment hat es für zeitgenössische, kritische Kunst selten gegeben.

Friedliche Protestkunst

Unter den 88 Künstlern und Gruppierungen gibt es etwa ein halbes Dutzend, die stark genug sind, um auf die visuelle Sprache der Straße zu antworten - diese schuf in den Tagen der Demonstrationen so einzigartige Bilder wie den "Standing Man", die öffentlichen langen Tafeln, an denen das rituelle Fastenbrechen als große Begegnung zu neuer Form fand, oder die vielen kleinen Eingriffe in den Stadtraum wie die regenbogenbunt gestrichenen Treppenstufen.

Das Video "Wonderland" von Halil Altindere ist so eine Arbeit: Es setzt mit Sirenengeheul ein und einer rasanten Verfolgungsfahrt im Polizeiwagen durch die engen Straßen von Sulukule, einem Viertel, in dem seit mehr als einem halben Jahrtausend Roma leben. "They are coming to knock down our neighbourhood", rappen die Jungs von Tahribad-i Isyan. Das Video zeigt, wie sie einen Polizisten zusammentreten und in Brand stecken, die Bilder entsprechen genau dem, was den Jugendlichen vorschwebte.

Symbolisch brennt die Staatsgewalt

So eine Arbeit ist ein Glücksfall für eine Großausstellung, die jetzt erstmals keinen Eintritt kostet und sich zum öffentlichen Raum erklärt. Doch im Haupt-Ausstellungsort Antrepo no.3, einem alten Hafengebäude, läuft sie in einer engen Videobox. Die stadtbekannten Roma-Jungs gingen unter allen Beteiligten der Biennale als einzige wirklich ein Risiko ein - schließlich brennt hier symbolisch auch die Staatsgewalt -, doch man versagt ihnen den prominenten Auftritt.

Kunstfreiheit und Unabhängigkeit? Kuratorin Fulya Erdemci steht unter Beschuss von lokalen Künstlern, weil die Biennale von ebenjenen finanziert wird, die eigentlich im Fokus der künstlerischen Kritik stehen. Außerdem wird bemängelt, dass die Biennale öffentlichen Raum zum Thema hat, die entsprechenden Ausstellungen aber ausschließlich in Galerien zu sehen sind.

Auch die Performance "Material Inconstancy", für die Hector Zamora Bauarbeiter in der ruinösen modernistischen Architektur der Sine-Akademie verteilt hat, damit sie sich wie Artisten im Rhythmus der Musik gefährlich schnell Steine zuwerfen - die allerdings auch unentwegt krachend zerschellen -, ist, wenn sie nach den Eröffnungstagen als Video im Ausstellungssaal ankommt, zur Diskurskunst gezähmt.

Besserwisserische Kunstgeschichte

Und auch wenn man von Seiten der Kunst mit Gordon Matta-Clarks gewaltigen Eingriffen in die Architektur New Yorks oder Jiri Kovandas stillen Performances in der Tschechoslowakei der Siebzigerjahre mühelos an die Protestbewegung andockt - wem sagt das etwas im Istanbul dieser Tage? Die so radikale, so bewegende Kunstgeschichte wirkt hier unerwartet besserwisserisch.

So mäandert die Ausstellung zwischen sentimentalen Referenzen an die Utopien der Sechziger und Siebziger und dem aktuellen Diskurs, verpasst es aber, sich der Öffentlichkeit wirklich verständlich zu machen: Dass ausgerechnet jetzt auf den Schildchen neben den Werken nicht viel mehr zu lesen ist als der Titel des Werks, der Name des Künstlers und der ihn vertretenden Galerie, ist unentschuldbar.

Freier Eintritt, aber keine Erklärungen

Sollten Passanten, Jugendliche, Aktivisten, Schulklassen bei freiem Eintritt tatsächlich in die Ausstellung strömen, werden sie sich den Gepflogenheiten der Diskurskunst unterwerfen müssen und nach dem dicken Besucherführer greifen, wo sie sich über die Diagramme wundern, die im Stil Mark Lombardis die Verflechtungen zwischen Regierungs-Investitionen und Medienkonzernen nachzeichnen. Und warum gibt Anikka Erikssons Welpenfilm den türkischen Straßenhunden eine Sprache? Wer die Idiome der zeitgenössischen Kunst nicht fließend spricht, fühlt sich ausgeschlossen.

Doch stellt sich in diesem Jahr in Istanbul auch grundsätzlich die Frage, ob die Kunst jenseits öffentlicher, unabhängiger Förderung überhaupt so frei ist, wie sie sich geriert. Zwar wird die Biennale von einer internationalen Stiftung getragen, als Hauptsponsor hat sich aber die Koc-Foundation verpflichtet. Die Familie Koc ist so etwas wie eine Krupp- oder Rockefeller-Dynastie; für den türkischen Geldadel und die Großindustrie - Familien wie auch die Eczacibasi oder die Sabanci - gehört die Kunst nicht nur als Sammlung zum dezidiert westlichen Lebensstil. Zeitgenössische Kunst ist der sichtbare Ausweis einer modernen Gesellschaft.

Untergrabene Opposition

Dass so etwas wie internationale Avantgarde in der Türkei eine Heimat findet, das war seit der Gründung der Biennale das Versprechen. Das wirkt jetzt fassadenhaft: Zwar ist bekannt, dass die Familie Koc mit dem Regime Erdogan nicht gut steht; aber die Vorsicht, mit der die künstlerische Leiterin Erdemci agiert, wo es um den Hauptsponsor geht, konterkariert jeden Anschein von Unabhängigkeit.

Zerflossene Träume: Volkan Aslans Neonskulptur "Games Games Games" thematisiert die Olympiabewerbung Istanbuls. Sie scheint deren kürzliches Scheitern bereits prophezeit zu haben. Aslan ist einer von mehr als hundert Künstlern und Künstlergruppen, die dieses Jahr an der Biennale teilnehmen.

Auf den kritischen Schautafeln der zur Ausstellung geladenen Aktivisten taucht der Name Koc, anders als der anderer mächtiger Clans, nicht auf. Als im Frühjahr die lokale Künstlerszene mit einer Performance auf den Widerspruch hinwies, dass man Geld ausgerechnet von denen annimmt, die zu den Profiteuren der Gentrifizierung gehören, ließ Fulya Erdemci die Aktivisten aus dem Saal schaffen und rief ihren Kritikern noch hinterher, man könne doch nicht davon ausgehen, "dass Kunst ein vollkommen abstrakter, sauberer Raum" sei: "Die Kunstwelt ist Teil des Systems und funktioniert innerhalb der gleichen Parameter, die wir alle teilen." Das klingt weltklug, untergräbt aber letztlich jede oppositionelle Geste.

Schutz des stärksten Schurken

Hat sich die Biennale am Bosporus, wo nach Wildwest-Manier regiert wird, schlicht unter den Schutz des stärksten Schurken begeben? Die Situation wirkt doppelzüngig: Man beklagt, dass die Biennale ihr angestammtes Ausstellungsgebäude Antrepo im Hafen aufgeben muss, weil dort womöglich ein Grandhotel hochgezogen wird; aber das geplante Museum der Koc-Foundation ist im Netz als 6.000 bis 8.000 Quadratmeter umfassender Riesenklotz zu bestaunen, der inmitten des steril bereinigten, ehemaligen Künstlerviertels Beyoglu aufragt.

So sind es allein die Künstler, die viel riskieren, die mit ihrem Namen oder auch Gesicht und Gesang für Unabhängigkeit, ja Dissidenz einstehen, wo die gastgebende Biennale schmiegsam bleibt. Im obersten Stock der griechischen Schule, dem zweiten, zentralen Ausstellungsort der Großschau, hängen die fünf olympischen Ringe als Neonskulptur unter der Decke, Volkan Aslan lässt sie wie zerschmolzen aus dem Gebälk triefen. Dieses Werk mit dem Titel "Games Games Games" wirkt jetzt wie ein zufriedener Kommentar zur aktuellen Entscheidung für Tokio und gegen Istanbul, das sich um die Ausrichtung der Olympischen Spiele im Jahr 2020 beworben hatte.

Vielleicht formuliert der Künstler Basim Magdy in seinen Text-Bild-Collagen die präziseste Vision dieser Biennale: "We came and we left and nothing changed." Dass man die Ausstellung letztlich nur als uninspirierte, nachlässig präsentierte Groß-Schau empfindet, als eine der vielen Etappen, die von der internationalen Szene Jahr für Jahr abgehakt werden - das empfindet man am Ende doch als eine Niederlage des zivilen Widerstands.

Catrin Lorch

© Süddeutsche.de 2013

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de