Unter Druck entstehen Diamanten

Die junge Teheraner Künstler- und Literatenszene hat vor allem eines verdient: Aufmerksamkeit. Denn was dort an ästhetisch Neuem heranreift, ist erstaunlich vielfältig und erfinderisch. Aus Tehran informiert Jan Röhnert.

Von Jan Röhnert

Es könnte genauso gut im Pariser Marais, am Prenzlauer Berg oder in Downtown Manhattan sein. Und auch wieder nicht. Das „VCafe“ im Norden Teherans in der Nähe der U-Bahn-Station Gholhak ist der einzige öffentliche Ort der persischen Metropole, an dem das Bild der beiden Ayatollahs nicht ins Auge springt.

Es okkupiert die fünfte Etage eines Hochhauses, hinter dessen Glasfassaden Baugerüste von der noch ausstehenden Fertigstellung künden – bis auf das „VCafe“, das über einen Aufzug am Hintereingang zu erreichen ist. Die Fensterfront zeigt das endlose Dächermeer Teherans nach Süden hin.

Hier, im klimatisierten Raum, lässt sich der brütenden Hitze widerstehen, den Zumutungen der unablässig rumorenden, benzin- und dieseldunstenden Boulevards ist man entkommen.

Schlichte silberverchromte Lampenschirme in Bauhaus- und Ikea-Serienformen hängen vom Deckengestänge des Lofts; von den Pressspanplatten des Tresens grüßt das Konterfei Virginia Woolfs mit dem Spruch „Arrange whatever pieces comes your way“.

Aus den Lautsprechern schallen „Here Comes the Sun“ oder „Everybody Hurts“, gefolgt von an diesem Ort bizarr wirkender deutscher Radiowerbung. Die geräumige Halle mit originellem Wandschmuck – großformatige bunte Siebdrucke, eine Wäschetrommel mit einer in Goldstaub sich drehenden Kristallkugel, ein die Lampenschirme konterkarierender Kristalllüster, ein zwischen die Gitter einer Stahlbox gesperrter Kronleuchter und die unentbehrliche Videoleinwand – ist ein Treffpunkt des freischaffenden intellektuellen Lebens in Teheran.

Das speist sich aus jüngeren Künstlern und Autoren, die von den Widersprüchen des herrschenden Systems und von der jahrhundertealten persischen Schriftkultur geprägt sind, aber nicht mehr das alte Spiel von vorauseilender Anpassung ans Gegebene und einem in die Falle der Machtstrukturen tappenden politischen Widerstand mitmachen möchten.

Iraner besuchen ein Rock-Konzert auf Kish Island, Iran; Foto: Mehr
Unverhoffte Freiräume im einem repressiven Land: „Teheran mit seinen Widersprüchen ist genau der richtige Ort für Kunst, weil sie dort mitten in einer Wirklichkeit entsteht, die am wenigsten perfekt zu sein scheint, während Kunst und Poesie von jeher den Anspruch von Perfektion erheben“, schreibt Jan Röhnert.

Ihre Strategie ist subversiver und listenreicher als die der vorangegangenen Generation – „entpolitisiert“ würde man das im Westen nennen. Aber in Teheran ist genau das eine ultrapolitische Geste: die Allgegenwart moralischer Zwangsjacken ausblenden oder gar demonstrativ missachten, um stattdessen nichts als Kunst zu machen, Texte, Bilder, Filme, Musik entstehen zu lassen. Dass das nicht ohne Irrtümer abgeht, gehört zur Logik jeder sich eklektizistisch generierenden Subkultur.

Die jüngere Teheraner Künstler- und Literatenszene hat vor allem eines verdient: Aufmerksamkeit. Was im Schmelztiegel der Fünfzehn-Millionen-Stadt an ästhetisch Neuem heranreift, ist erstaunlich vielfältig und erfinderisch. Es speist sich aus den seltsamsten, kaum in Einklang zu bringenden Quellen und ist in seinen originellsten Hervorbringungen vor allem die Leistung Einzelner, die keiner Gruppe zuzuordnen sind, obgleich sie intensive freundschaftliche Bande untereinander pflegen.

Wo die Kreativität herkommt

Individuelle Lebenspraxis wird in Kunst und Schreiben überführt; gleichzeitig schafft sich das Private seine eigene Öffentlichkeit. Jenseits von Folklorismus oder Engagement hat sich der interessanteste Teil der jüngeren Teheraner Kunstszene den Imperativ der Avantgarden zu eigen gemacht, Kunst- in Lebenspraxis zu überführen und vice versa.

Das ist kein Anachronismus, sondern die Aktualisierung eines Credos, das sich seit seinem Aufkommen bei den in Paris vor dem Ersten Weltkrieg um Guillaume Apollinaire gescharten Künstlern und Dichtern immer wieder bewährt hat – am wirkmächtigsten in den späten Fünfzigern bei der New York School um Frank O’Hara, Kenneth Koch und John Ashbery und den mit diesen Dichtern verbundenen Malern wie Jackson Pollock und Larry Rivers oder auch Andy Warhol.

Wie in Apollinaires Paris und O’Haras New York spielen nun auch in Teheran private oder halböffentliche Galerien, mediale Crossovers zwischen Literatur und bildenden Künsten sowie enge persönliche Freundschaften eine entscheidende Rolle.

Die Verse der 1976 geborenen Sara Mohammadi Ardehali haben einen neuen sachlichen Ton in die Lyrik – traditionell Königsdisziplin der persischen Literatur – gebracht, der vom Publikum begeistert aufgenommen wurde. Mit einer für die bildreiche persische Tradition provokanten Schlichtheit und Präzision gelingt es Ardehali in wenigen Worten, das Alltägliche auf den doppelten Boden seiner Fremdheit und Rätselhaftigkeit hin abzuklopfen und es dennoch so eindringlich und zart anzusprechen wie ein unter Freunden geteiltes Geheimnis. Ein besonders schönes Beispiel für die Herstellung poetischer Öffentlichkeit im Privaten bietet die Zusammenarbeit Ardehalis mit der 1983 geborenen Malerin Farima Fooladi. Im Winter 2011 zogen sich die beiden Frauen auf das weitläufige, anderthalb Stunden westlich von Teheran in den Bergen gelegene Gartengrundstück der Familie der Dichterin zurück. Mit Teheran zu Füßen, hatten sie vor dort Tische aufgestellt, an denen beide simultan ihren Tätigkeiten nachgingen; während der Pausen schauten sie sich das Entstandene an, dessen Spiel von Nähe und Distanz.

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In einem Gedicht von Sara Mohammadi Ardehali, das dem aus dieser Zusammenarbeit hervorgegangenen Buch vorangestellt ist, kommt der Kontrast zwischen der entrückten ländlichen Perspektive und der Großstadt, deren Kulisse trotzdem Blick und Bewusstsein dominiert, zum Ausdruck:

„Ich drehe mich// der Länge nach/ die Sonne und ich/ schlafen im Dorf// der Wind flieht/ am Rand des Wassers/ zwischen Kirschen und Aprikosen hin – //mein verehrter Wiedehopf / wie komme ich bloß nach Teheran zurück –// du sitzt in einer fliegenden Untertasse/ verlierst dein Raumzeug über der Hemmat-Autobahn/ gleich/ wird alles auseinander fliehn// wie hoch ist die Miete für dein Haus/ wie viel Kohle bringt dir das/ warum schaltest du dein Handy aus/ wieso kommst du Montag nicht// ich sollte/ mich zur Grille machen/ in die Stadt gekommen/ damit man die Saiten ihrer Setar stimmt.“

Die Malerin Farima Fooladi lebt inzwischen in den Vereinigten Staaten, wird von der in Teheran und New York vertretenen Shirin Galerie repräsentiert und konnte im vergangenen Jahr ihre Zusammenarbeit mit der Dichterfreundin unter dem Titel „Displacement“ an der Pennsylvania University ausstellen. Sara Mohammadi Ardehali blieb dagegen in Teheran und versucht, den Aberwitz des Stadt-Molochs nun auch in einen Roman und Kurzprosa zu bannen.

Unruhe spricht aus diesen Werken

Ungewöhnliche, nicht mehr mit dem wohlfeilen Raster des Orientalismus zu erfassende Geschichten erzählen ebenso die filigranen Zeichnungen und Drucke von Amirkasra Golrang.

Die Akribie und das Raffinement der aus der islamischen Kultur bekannten nichtfigurativen Arabeske und Kalligraphie treffen beim 1983 geborenen Golrang auf zu Stillleben arrangierte Objekte aus westlichen Mode- und Einrichtungsmagazinen (Bettvorleger, Blumenständer, Designerstühle, Kleiderschränke, Paravents, Plüschkissen und wiederholt über Stuhllehnen und Betten geworfene Fuchsfelle), die in ihrer vermeintlich dekorativen Unschuld alles andere als „still“ sind, sondern eine die Formen sprengende Unruhe verbreiten.

In diesen Bildern mischen sich westliche und östliche Vorstellungswelten über Orte privaten Rückzugs und der Entspannung, treffen Mode-Accessoires, die so unpolitisch sind wie nur möglich, auf eine iranische Öffentlichkeit, in der jede individuelle Geste – zum Beispiel das Abnehmen des Kopftuchs – und jedes der Kleidung hinzugefügte oder fehlende Detail mit Bedeutung aufgeladen sein und als politischer Akt aufgefasst werden kann.

Golrangs neuestes Projekt: Den Abbildungen islamischer Heiliger wird der Nimbus christlicher Ikonen hinzugefügt, was weniger blasphemisch oder synkretistisch wirkt, als vielmehr darauf verweist, wie verschiedene schematisierte Darstellungsarten des Religiösen ähnliche darunterliegende Konzepte offenbaren.

Es ist generell reizvoll, die zahlreichen Transformationen und Wanderungen tradierter persischer Motive aus Malerei und Literatur in die Gegenwart zu verfolgen.

Weder die Blumen, mit der Rose als orientalischer „Urpflanze“ im Zentrum aller Meditationen über Schönheit und Liebe, noch die Vögel oder Schmetterlinge, die schon die Verse Rumis und Hafez’ bevölkerten, sind aus der aktuellen Kunst und Poesie in Iran verschwunden; sie sind im neuesten Modedesign, auf Häusermauern oder in den buntgekachelten Metrostationen ebenso präsent wie in der aktuellen Kunst und Poesie, freilich meist nur verhalten angedeutet, seltsam gebrochen in Einzelstücken und Puzzleteilchen dargestellt, die es für Betrachter oder Leser auf neue Weise zusammenzudenken und zusammenzusetzen gilt – eine Gebrauchsanweisung gibt es nicht.

Teheran mit seinen Widersprüchen ist genau der richtige Ort für Kunst, weil sie dort mitten in einer Wirklichkeit entsteht, die am wenigsten perfekt zu sein scheint, während Kunst und Poesie von jeher den Anspruch von Perfektion erheben.

„Beschwer dich nicht, wenn du vollkommen bist/ es gehört zu dir/ lässt sich schließlich nicht verbergen/ wie sehr du all die Dinge liebst/ wie sollte es auch anders sein“, heißt es in einem Gedicht von Sara Mohammadi Ardehali.

Jan Röhnert

© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2017