Den Sultan auf die Schippe nehmen

Die Türkei geht seit einem Jahr durch eine ihrer größten politischen Krisen - für die Kunstszene eine Chance, sich auszuleben und auf kreative Weise Protest zu üben. Oft hat das jedoch schwerwiegende Folgen. Aus Istanbul informiert Senada Sokollu

Von Senada Sokollu

Korruptionsskandal, Massenproteste, Twitter- und Youtube-Verbot. Während in der türkischen Politik ein Skandal den nächsten jagt, lässt sich das Volk den Spaß nicht verderben: Mit Graffiti, Comics und Musik erleben viele gerade in der politischen Krise ihre künstlerische Hochphase.

Nicht nur professionelle Künstler toben sich aus. Auch Normalbürger verewigen sich an Hauswänden in Form von Streetart oder machen aus Fotos am Computer satirische Gags, um sie dann im Internet zu verbreiten.

Stiller Protest

Seit fast einem Jahr geht das nun schon so. Die Kunst ist Ventil für den angestauten politischen Frust, der in den überwiegend von der Regierung kontrollierten Medien kein Sprachrohr findet. Seit dem Ausbruch der Gezi-Park-Proteste im vergangenen Jahr wurde die Kunst vermehrt als alternative Art von Protestform herangezogen. So inspirierte der Künstler Erdem Gündüz, bekannt als "Standing Man", Millionen von Menschen, indem er mit einem stillen Stehprotest seinen Unmut gegen die Regierung ausdrückte.

Stiller Protest des türkischen Künstlers Erdem Gündüz (m.) in Istanbul; Foto: Reuters
Stiller Protest in der Türkei als Symbol des friedlichen Widerstands gegen Erdogans autoritären Regierungsstil: Während der Gezi-Park-Proteste im Juni 2013 folgten viele Türken dem Beispiel des Künstlers Erdem Gündüz mit einem stillen Stehprotest. Schweigend und stehend demonstrierten Tausende im ganzen Land gegen Premier Erdogan.

Auch die Musikszene ist voller regierungskritischer Lieder. Allein in Istanbuls alternativen Diskotheken, wie im Club "Araf" im Ausgehviertel Beyoglu wird mindestens einmal am Abend ein ganz bestimmter Titel gespielt. Es ist der Song des Widerstandes aus den Gezi-Park-Protesten, den Millionen Menschen immer wieder bei den Demonstrationen singen. Der Titel lautet "sik bakalim!", was so viel heißt wie "sprüh mal!". Es geht um Tränengas und Schlagstöcke. Dann singen alle Gäste im Club lautstark mit, lachend, springend und tanzend.

Zu den eindrucksvollsten Protestaktionen gehören aber die Regenbogentreppen: Über Nacht wurden Dutzende graue Treppen in türkischen Städten in Regenbogenfarben angemalt. Die Regenbogenfarben - ein Symbol von Frieden und Toleranz.

Erdogan knabbert am Twitter-Vogel

Vor allem Ministerpräsident Erdogan ist in der jüngsten Zeit vermehrt zum Zielobjekt künstlerischer Darbietungen geworden. Kurz nachdem Twitter gesperrt wurde, hagelte es humoristische Zeichnungen - aus Protest gegen seinen autoritären Regierungsstil. So sah man Erdogan auf Titelblättern diverser türkischer Zeitungen am blauen Twitter-Vogel knabbern oder als Fahrer eines "Demokratie-Mobils" unzähligen Twitter-Vögeln davonfahren. Am weitesten verbreitet war die Zeichnung auf der man sieht, wie die blauen Tierchen ihre Notdurft verrichten - auf Erdogans Haupt.

Auch dazu, wie man die Internetsperren umgehen kann, gab es diverse Ratschläge und Hinweise in Form von DNS-Codes: als Graffiti an die Wände türkischer Städte gemalt.

Und zuletzt wurden die aktuellen Kommunalwahlen durch Künstler ordentlich auf die Schippe genommen. So zeigte die Comic-Zeitschrift "Penguen" auf ihrem Titelblatt eine Zeichnung, die einen Wähler an einer Wahlurne zeigt. Statt eines Wahlzettels wirft er Geld in die Urne. "Im Schatten der Korruption und Bestechung gehen wir wählen", kommentiert ein Satz die Zeichnung.

Das türkische Demokratieproblem

Latuff-Cartoon "Demokratie-Mobil"; Quelle: Latuff 2014
Freie Meinungsäußerung in Erdogans Gewahrsam: Der türkische Ministerpräsident als Wagenführer eines "Demokratie-Mobils mit eingesperrten Twitter-Vögeln

"Die Türkei hat seit ihrer Gründung ein Demokratie-Problem. Daher gibt es Satire schon immer in geschriebener, gezeichneter und verbaler Form. Satire hatte ihren Platz bereits während des Osmanischen Reiches, als Satiriker sich über den Sultan lustig machten", so Hakan Bilginer, der 2010 die Satire-Zeitschrift "Zaytung" gegründet hat. Der Gründungszeitpunkt fiel genau in die Zeit, als die Regierungsform in der Türkei autoritärer wurde und Journalisten und die Medien verstärkt unterdrückt worden seien, erzählt Bilginer.

"Wir hatten noch keine Probleme mit der Regierung, weil wir ein unabhängiges Magazin sind. Die Art und Weise, wie die türkische Regierung die Medien kontrolliert, erfolgt vor allem durch Geschäftsbeziehungen. Da wir diese nicht haben, wird kein direkter Druck auf uns ausgeübt", erklärt Bilginer. Der Regierung sei die Zeitschrift bekannt, sagt er. "Ihre Vertreter folgen uns sogar in den sozialen Medien, wie Facebook und Twitter. Manchmal teilen sie sogar unsere Einträge, weil sie sie zum Lachen finden", sagt er.

Zugegebenermaßen sei die Redaktion aber vorsichtig, wenn es um bestimmte Inhalte gehe: "Wir versuchen keine Probleme mit dem Gesetz zu bekommen, daher beleidigen wir die Regierung nie direkt. Aber wir finden immer einen Weg, das zu sagen, was wir auch wirklich sagen wollen. Außerdem geht es ja um Humor. Dadurch hat man immer einen Bonus", erzählt Bilginer.

Kein Grund für Selbstzensur

Karikatur in Comic-Band "Leman"; Quelle: Leman
Bissiger Humor gegen Erdogan im Comic-Band "Leman": "Mit welchem Finger hast du dich bei Twitter eingeloggt?"

Anders als Bilginer hat Tuncay Akgün bereits schlechte Erfahrungen mit der türkischen Regierung gemacht. Er hatte bereits vor 28 Jahren das Comic-Heft "Leman" gegründet, kurz nach dem Militärputsch von 1980. Es gehört mit 30.000 Auflagen zu den meist verkauften Comics der Türkei.

"Unser Blatt ist radikal, weshalb man uns Künstler dann auch reihenweise ins Gefängnis gesteckt hat. Auch ich war zeitweise in Haft", berichtet Akgün. Momentan laufe ebenfalls ein Verfahren gegen "Leman", sagt er. "Die Regierung hat gegen uns geklagt. Inzwischen liegt der Fall auch dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vor. Nichtsdestotrotz müssen wir wohl mit einer hohen Geldstrafe rechnen. Der Vorwurf lautet, wir hätten den Ministerpräsidenten beleidigt, weil wir ihn auf der Titelseite mit ausgestreckten Mittelfinger abgebildet haben." Er vertraue auch den türkischen Gerichten nicht, da sie nicht unbedingt unabhängig seien, meint Akgün. "In der Türkei weiß man nie, was passiert. Wir sind auf alles gefasst."

Trotzdem sei das kein Grund für Selbstzensur, meint der Cartoonist. "Das zeichnet uns aus. Wenn wir ständig daran denken würden, was uns passieren könnte, bräuchten wir gar nicht mehr zu zeichnen. Wir zeichnen das, worauf wir Lust haben und bei dem wir der Meinung sind, dass das jetzt an die Öffentlichkeit muss." Akgün ist stolz auf seine Landsleute. "All die Zeichnungen und Graffitis in der gesamten Stadt sind großartig. Sie werden mehr und immer besser." Kunst sei einfach ein probates Mittel für politischen Protest.

Senada Sokollu

© Deutsche Welle 2014

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de