Doch keine "schwarze Welle"?

Nach dem Sieg der konservativen Kräfte im Februar stellte sich die Frage, ob mit erneuten Einschränkungen gesellschaftlicher und kultureller Freiheiten zu rechnen sei. Noch haben sich solche Befürchtungen nicht bewahrheitet. Von Volker Perthes

Nach dem eher der Politikverdrossenheit der Bevölkerung denn dem Wählerwillen zu verdankenden Sieg der konservativen Kräfte im vergangenen Februar stellte sich die Frage, ob mit erneuten Einschränkungen gesellschaftlicher und kultureller Freiheiten zu rechnen sein würde. Noch haben sich solche Befürchtungen nicht bewahrheitet. Volker Perthes hat sich umgehört.

​​Nima Saidi, 27, ist Leadsänger und Gitarrist der Rockband Taboo, der nach Ansicht seiner Fans besten unter den fünf oder sechs Gruppen, die in Iran Musik dieser Stilrichtung machen. Nima und seine Freunde verteilen die Flyer zu ihren Konzerten selbst bei anderen Kulturveranstaltungen.

Rockmusik ist nicht gerade, was die Herrschenden in Teheran für islamisch korrekt halten. In Rockkonzerten - der Gruppe Taboo werden drei bis vier Auftritte pro Jahr genehmigt - wird auf Moralität geachtet: Tanzen im Saal oder zu starkes rhythmisches Mitgehen ist untersagt und kann, wenn es dennoch stattfindet, zum raschen Ende der Veranstaltung führen.

Überhaupt als Rockband auftreten zu können, sagt Nima, sei erst in der Ära Khatami möglich geworden. Sicher werde die Regierung iranischen Musikern auf absehbare Zeit nicht die Freiheit geben, zu spielen, was, wann und wie sie wollen.

Dass das Parlament nun von Konservativen dominiert werde, sei ein Rückschritt; vielleicht werde es demnächst weniger Genehmigungen für Auftritte seiner und ähnlicher Gruppen geben. Aber die einmal gewonnenen Freiheiten künstlerischen Ausdrucks ganz zurückzunehmen, das werde wohl schwierig sein.

Gelassen angesichts der Wende

Was die neue konservative Mehrheit im Majlis, dem iranischen Parlament, für die Kulturpolitik in Iran bedeutet, ist noch nicht klar. Die meisten iranischen Beobachter, auch kritische und liberale Stimmen, nehmen die konservative Wende recht gelassen.

Erstens nämlich ist die Begeisterung für den Reformpräsidenten Muhammad Khatami in Iran selbst längst nicht mehr so gross wie im Westen - viele seiner ehemaligen Anhänger werfen ihm heute vor, zwar schön zu reden, aber wenig von seinen Reden umgesetzt zu haben.

Zweitens sieht man in den Konservativen, die jetzt das Parlament beherrschen, überwiegend Pragmatiker, die es vielleicht schaffen, zumindest eine vernünftige Wirtschaftspolitik zu machen.

Und drittens werden die Konservativen nicht "gegen die Demographie" anregieren können, gegen eine überwiegend junge Bevölkerung, die sich ihre Freiheiten genommen hat - sechzig Prozent der Iranerinnen und Iraner sind unter zwanzig.

Kunst ist eine Notwendigkeit

Zweifellos, so eine Verlegerin, würden einige konservative Autoritäten jetzt versuchen, Film- und Buchproduktion und auch die jeweiligen Produzenten und Verlage noch stärker zu kontrollieren. Umbesetzungen in zentralen Positionen der Kulturbürokratie, mit denen der neuen Mehrheit Reverenz erwiesen wird, mögen die Dinge zusätzlich komplizieren.

Eine bekannte Schauspielerin urteilt ähnlich wie die jungen Rockmusiker: Wahrscheinlich werde man auf Genehmigungen für mehr oder weniger gesellschaftskritische Fernsehserien und Filme länger warten müssen; aber die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks an sich einzuschränken, das gehe wohl kaum.

Vielleicht, so Behruz Gharibpoor, Manager der iranischen Künstlervereinigung und des Künstlerhauses in Teheran, werde es jetzt etwas konservativer, vielleicht werde auch der eine oder andere künstlerische Direktor versetzt.

Jene gefährliche Phase, in der Teile des islamischen Systems überhaupt keine Musik, kein Kino, keine Bilderausstellungen hätten sehen wollen, sei aber endgültig vorbei; auch die islamischen Ideologen wüssten mittlerweile, dass Kunst eine Notwendigkeit sei.

"Verbote fördern Kreativität"

Selbst in der Ära Khatami haben schliesslich Regeln gegolten, die die Vereinbarkeit von Kulturprodukten mit den ideologisch-moralischen Vorstellungen der Regierenden sicherstellen sollten.

Manches davon wirkte und wirkt ein wenig seltsam. So dürfen Frauen etwa nicht solo singen; im Duett dagegen oder zu mehreren dürfen sie es, auch zusammen mit männlichen Kollegen.

In der Theater- und Filmproduktion müssen Frauen immer ein Kopftuch tragen, auch in häuslichen oder im Ausland spielenden Szenen, bei denen ein Kopftuch oder Schleier der abgebildeten Realität eben nicht entspricht.

Und wenn die Filmszene will, dass ein Vater seine Tochter in den Arm nimmt, dann lässt sich das so nicht darstellen; die beiden Schauspieler sind schliesslich nicht verheiratet oder tatsächlich Vater und Tochter. Künstler arrangieren sich mit solchen Vorgaben. Es gebe, so ein Filmemacher, eben bestimmte rote Linien, die man zu respektieren gelernt habe. Und manches Verbot der Darstellung fördere die Kreativität.

Verbannt, aber nicht offiziell verboten

Vieles ist im ständigen Fluss und wie die iranische Politik generell nicht unbedingt eindeutig. Das gilt etwa für die Geschichte des Films "Marmulak" ("Die Eidechse") von Kamal Tabrisi, eine Gauner- und Gesellschaftskomödie über einen flüchtigen Sträfling, der sich als Mullah verkleidet und, einem wilhelminischen Hauptmann von Köpenick ähnlich, damit durchkommt.

Der Film, der sich in befreiender Weise über die Mullahs und ihre Beschränktheiten lustig macht, brach iranische Kassenrekorde. Nach Protesten einiger konservativer Vertreter der Geistlichkeit wurde er erst in einigen Städten, dann überall in Iran abgesetzt.

Natürlich zeige die Tatsache, so der Regisseur, dass der Film aus den Kinos verbannt worden sei, den Vormarsch der konservativen Mentalität. Gleichzeitig aber sei der Film eben nicht offiziell verboten worden.

CD-Kopien des Werks sind auf der Strasse erhältlich, und eine Filmkritik, die wenige Tage nach der Absetzung des Films in "Iran News", einer der vier englischsprachigen Tageszeitungen, erschien, konnte ihn über den grünen Klee loben: Der Film, hiess es darin, sei brillant in der Art, wie er sich über die schiitische Geistlichkeit lustig mache, die "hier so populär ist wie ihre katholischen Gegenstücke im Europa des 16. Jahrhunderts".

Die Gelassenheit, mit der die konservative Wende gerade auch aus der Kulturszene betrachtet wird, mag auch daher rühren, dass die Vertreter der neuen parlamentarischen Mehrheit eine gewisse pragmatische Liberalität versprechen.

"Wir Neokonservativen", sagt Amir Mohibiyan, ein Mitherausgeber der konservativen Zeitung "Risalat", "sind uns der gesellschaftlichen Veränderungen bewusst. Wir denken sehr wohl, dass eine islamische Gesellschaft errichtet werden sollte, aber wir glauben nicht, dass eine geschlossene Gesellschaft gut ist. Modischen Details wie der Frage, wie die jungen Frauen ihr Kopftuch tragen wollen, sollte man nicht so viel Aufmerksamkeit widmen."

Placebo-Freiheiten?

Einige kritische Beobachter sehen im demonstrativen Pragmatismus der neuen Konservativen allerdings auch eine Art repressive Toleranz. Die Konservativen, so ein dissidenter hoher Geistlicher, wollten die Leute im Wesentlichen entpolitisieren.

Man werde tolerieren, dass junge Frauen ihr Kopftuch tragen, wie sie es wollen, und werde auch offiziell die Verbreitung von Satellitenschüsseln und damit von ausländischen -"unmoralischen" - Fernsehprogrammen gestatten. Wichtig sei den Regierenden letztlich nur, dass die Leute zu Hause blieben.

Ähnlich sieht es eine iranische Frauenrechtlerin: Die Konservativen hätten keine Angst vor dem "schlechten Hijab", dem auf die hintere Kopfhälfte rutschenden Kopftuch junger Frauen, wohl aber vor Büchern und Filmen, die ihrer Herrschaft und Moral kritisch gegenüberständen.

Die Konservativen selbst dagegen bemühen sich, auch im eigenen Auftreten die Vielgestaltigkeit und damit die Eigenart iranischer Kultur und Identität zu demonstrieren.

Man wolle, sagt einer ihrer Vordenker im Gespräch, keine "harte" Religiosität durchsetzen. Schliesslich läsen auch religiöse Iraner nicht nur den Koran, sondern auch Hafis - den sinnenfrohen grossen persischen Dichter des 14. Jahrhunderts, den Goethe in seinem "West-östlichen Diwan" als Bruder im Geiste ansprach.

Das Werk von Hafis steht in Iran tatsächlich über jeder puritanischen Kritik. In einer Sonderausstellung des Malers Kamal Alavi im Museum für moderne Kunst in Isfahan findet sich unter vielen künstlerischen Darstellungen von Koranzitaten ein kalligraphisches Gemälde mit einem Hafis-Vers:

"Komm zur Taverne und lass dein Gesicht purpurn werden; gehe nicht zur Moschee, denn dort sind die, deren Gesichter schwarz sind" - will heissen: die schlechte Menschen sind. Niemand hier findet die Nachbarschaft von Hafis-Vers und Koransuren unpassend.

Volker Perthes

© Neue Zürcher Zeitung, 21.08.2004

Volker Perthes leitet die Forschungsgruppe Naher und Mittlerer Osten an der Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin.