Der wahre Herrscher ist die Angst

Auf dem Kulturfestival in Riad zeigt sich ein schlingerndes saudisches Königreich ohne Frauen auf den Podien. Am Rande aber diskutiert man ganz offen über Politik und Religion. Aus Riad informiert Stefan Weidner

Von Stefan Weidner

Die Hauptstadt Saudi-Arabiens ist anders als die übrigen Hauptstädte am Golf. Diese haben gewöhnlich wenig Platz und bauen hoch. Riad hingegen verleibt sich die Wüste ein und geht in die Breite, leistet sich Einfamilienhäuser im Stadtzentrum. Und die wenigen Hochhaustürme, die es gibt, sind architektonisch reizvoller, als man es aus den Emiraten kennt. Dafür sieht man in der saudischen Hauptstadt keine Menschen mehr auf der Straße. Der Typus des Fußgängers ist in Riad ausgerottet, sein Habitat vernichtet worden. Ohne Auto kommt man nirgendwohin.

Als ich am letzten Tag meines Aufenthalts dennoch versuche, zu Fuß zu gehen, werde ich prompt verhaftet und im Polizeiwagen zu meinem Zielort eskortiert. Zum Glück habe ich mich als Ehrengast der saudischen Nationalgarde ausweisen können. Diese richtet vor den Toren der Stadt das alljährliche Janadriyah-Festival aus, eine eigenartige Mischung aus Messe und Jahrmarkt und die einzige öffentliche Massenvergnügung in Saudi-Arabien. Sofern man die Mekka-Pilgerei nicht dazu zählen möchte.

Schau deutscher Wertarbeit

Das Gastland des Festivals ist in diesem Jahr Deutschland, das sich damit eine äußerst undankbare Aufgabe aufgehalst hat. Denn was soll man auf einem solchen Festival in einem Land machen, in dem alle öffentlichen Darbietungen unerwünscht sind und jede Begegnung aufgrund der zahllosen Menschenrechtsverletzungen so kompromittierend wirkt wie ein Kontakt mit einem Aussätzigen? Die Antwort weiß die Wirtschaft: Selbst wenn, wie im Fall von Iran und Saudi-Arabien, jeder Dialog versandet, lässt sich sicher schon etwas finden, mit dem man handeln und das man verkaufen kann.

Folglich ist der – größtenteils von ebendieser Wirtschaft – bezahlte Gastlandauftritt zu einer Schau deutscher Wertarbeit geraten, verleimt mit ein bisschen Kleinkunst, Folklore und Fassade. Die Fassade befindet sich in diesem Fall im Inneren des deutschen Pavillons und besteht aus einer gigantischen Fototapete im Maßstab von eins zu eins, die wiederum alle möglichen in Deutschland vorkommenden Häuserfassaden abbildet – vom Fachwerk bis zum Bankenviertel.

Deutscher Pavillion, Alter Markplatz; Foto: © MAR/Zeissig
Deutsche Kultur und Architektur im Blickpunkt: In einem 2.000 Quadratmeter großen Pavillon präsentieren das Auswärtige Amt, die Standortinitiative "Deutschland – Land der Ideen", das Goethe-Institut und mehrere Wirtschaftspartner Deutschland als attraktiven Kultur-, Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort. Mit dem Pavillon-Konzept soll den Besuchern vermittelt werden, welche innovativen Lösungen und Ideen Deutschland für die Herausforderungen der Zukunft bietet.

Dazwischen ein Stand des Goethe-Instituts mit Schnupper-Sprachkursen, Infomaterial und freundlichen arabischsprachigen Mitarbeitern. Dazwischen aber auch ein Stand des Islamischen Museums zu Berlin, das ein paar Tage später eine feine Ausstellung im Nationalmuseum eröffnet, bei der, als kämen sie aus Berlin, genau die Stücke aus dem Museumsdepot der Saudis gezeigt werden, die die Saudis selbst sich nicht zu zeigen trauen: etwa die über tausend Jahre alten Grabsteine aus Mekka und Medina, die von den staatstragenden Wahhabiten doch eigentlich schon vor zweihundert Jahren sämtlich zerstört worden sein sollen. Der Besuch der Gräber und die Verehrung der Toten gelten ihnen als Vielgötterei.

Klebrigstes Königslob

Will man fair sein, muss man zugeben, dass der deutsche Pavillon eigentlich recht gelungen ist. Aber gerade deswegen fallen die Stände der Technik- und Luxuswirtschaft so negativ auf, wirken als Fremdkörper. Hätte man doch wenigstens eine deutsche Bäckerei als Sponsor gewonnen, wo doch "Kamps" ("The German Bäckerei", sic!) demnächst in Riad eine Filiale eröffnet; oder den FC Bayern mit einem Fanshop auftreten lassen, dessen Trikot einer der Kamelreiter trägt, die am Eröffnungsabend vom König ausgezeichnet werden.

Doch obwohl alleinstehende Männer, die sich durch die Show deutscher Technik wohl eher angesprochen fühlen, nach dem zweiten faktischen Öffnungstag gar keinen Zutritt mehr haben, strömen die Saudis in Scharen in die Halle. Männer dürfen nur noch als "Familie", nämlich in Begleitung von Frauen oder Kindern, das Gelände betreten. Sage da niemand mehr, die hanebüchene Geschlechtertrennung in Saudi-Arabien benachteilige nur die Frauen.

Janadriyah ist jedoch mehr als das jahrmarktartige Festivalgelände, über das alle Medien berichteten. Es ist in Gestalt einer einwöchigen Tagung im King-Faisal-Konferenzzentrum mitten in der Stadt auch ein Forum des Austauschs für die Eliten des Königsreichs. Hochkarätige Intellektuelle aus anderen arabischen Ländern werden hinzugeladen und in diesem Jahr wegen des Gastlandauftritts auch ein paar Deutsche, wenngleich außer dem Autor dieser Zeilen am Ende niemand der Einladung der Nationalgarde gefolgt war.

Sieger des diesjährigen Kamelrennens auf dem Kulturfestival Janadriyah in Riad; Foto: Michael Kappeler/dpa
Der Sieger des traditionellen Kamelrennens über 18 Kilometer überquert am 3. Februar 2016 im saudischen Riad beim Janadriyah-Festival die Zielline. Deutschland ist Gastland bei dem zweiwöchigen Volks- und Kulturfestival in der Nähe von Riad

Als aber nach zwei Tagen voll von klebrigstem Königslob jeder, der bei Verstand war, sein Kommen schon bereut hatte, wurde es auf einmal interessant. Das Königreich befinde sich in einer äußerst prekären Lage, betonten die plötzlich auch die Probleme ansprechenden Redner. Vier arabische Hauptstädte habe der Erzfeind Iran (in Gestalt schiitischer Verbündeter) bekanntlich besetzt. Gemeint sind Sanaa, Damaskus, Bagdad und Beirut. Gegenüber dem Westen tue Iran so, als respektiere es internationale Grenzen. In der saudischen Nachbarschaft exportiere es aber die Revolution und unterminiere die Stabilität durch schiitische Agitation, so war zu vernehmen.

Gesprächsrunden ohne Frauen

Dieser Grundton fand in den Gesprächen am Rande seinen Nachhall. Im Bus gerieten zwei kultivierte ältere Herren aneinander, und auf einmal wurde, was sonst alle peinlich vermieden, Klartext geredet. Der Sunnit aus Kuweit, ein säkularer Intellektueller, warf den Schiiten vor, sie würden aus bloßer Lust zur Provokation in ihren Lehrbüchern die Prophetengenossen beleidigen. Der vornehme Schiit aus dem Osten Saudi-Arabiens bestritt dies entschieden und verlangte Belege, wo er doch seinerseits in vielen Moscheen als Schiit gar nicht mehr beten dürfe, was wiederum der Mann aus Kuweit lautstark als bloße Behauptung abtat.

Der bald per Handschlag beigelegte Eklat geschah auf der Fahrt zu einer der allabendlichen Gesprächsrunden in einem Kreis von meist dreißig bis vierzig Leuten. Diese Runden entpuppen sich als der eigentliche, vor der Öffentlichkeit freilich verborgene Sinn des Janadriyah-Festivals. Moderiert vom jeweiligen Gastgeber, oft mit einem vorgegebenen Thema, werden die Probleme des Landes und der Region diskutiert. Leider finden auch diese Runden ohne Frauen statt – nicht, weil es verboten wäre, sondern schlicht und einfach, weil man es so gewohnt ist.

Zwei aus London angereiste exiliranische Journalisten sind an diesem Abend zu Gast, sprechen mit persischem Akzent ein schönes Arabisch und erklären, selbst in Opposition zu Teheran stehend, dass ihrerseits auch die Saudis nach Kräften versuchten, in Iran Unruhe zu stiften und die arabischsprachigen Iraner gegen ihr Regime aufzuhetzen. Dabei verstünden diese sich als Iraner und hätten im iranisch-irakischen Krieg mutig gegen Saddam gekämpft.

Demonstranten stürmen am 2. Januar 2016 die saudische Botschaft in Teheran und setzen sie in Brand; Foto: picture alliance/dpa/M.-R. Nadimi
Spannungsreiches Verhältnis: Die Regierung Saudi-Arabiens hatte die diplomatischen Beziehungen zum Iran abgebrochen, nachdem aufgebrachte Demonstranten Anfang Januar die saudische Botschaft in Teheran gestürmt hatten. Auslöser für die Proteste im Iran war die Hinrichtung des prominenten schiitischen Geistlichen Nimr al-Nimr im sunnitischen Saudi-Arabien.

Niedriges Ausgangsniveau

In der Runde aus ehemaligen Ministern, erfahrenen Journalisten, Rechtsanwälten und Akademikern befinden sich auch jüngere Leute. Während sich die Iraner mit einem arabischen Nationalisten streiten, der die Situation der iranischen Araber mit der der Palästinenser vergleicht, beginnt ein Student mit mir ein Gespräch über Hegels Rechtsphilosophie. Die habe, da sei er sicher, hier in dieser Runde kaum einer gelesen. Wie könne man unter dieser Voraussetzung gegenüber der Religion und den mächtigen Stämmen eine souveräne Staatlichkeit begründen? Hobbes müsse man lesen, Hegel, aber vor allem Carl Schmitt.

Die Sehnsucht nach einem starken Staat, die auch in anderen Gesprächen und Vorträgen deutlich wird, verwundert nicht angesichts der Zerfallsprozesse in der Region und der zentrifugalen Kräfte, die Saudi-Arabien aus dem Inneren bedrohen. "Entscheidung und Entschiedenheit" lautet das überall plakatierte, von allen Rednern zitierte Motto, unter das König Salman seine Regentschaft gestellt und prompt den Krieg gegen die Huthi-Rebellen im Jemen vom Zaum gebrochen hat. Doch nach bald einem Jahr ist der Krieg gegen die Stammeskämpfer immer noch nicht entschieden, wie einigen auffällt.

Auch die frisch verkündete Bereitschaft, saudische Bodentruppen gegen den IS einzusetzen, wird in den Gesprächsrunden begrüßt. Neben Iran, das man bei dieser Gelegenheit in Syrien gleich mit bekämpfen kann, werden der "Islamische Staat" und der islamische Terrorismus als die größte Gefahr für Saudi-Arabien wahrgenommen. Gerade weil die wahhabitisch-saudische Staatsideologie und die Weltanschauung des IS kaum unterscheidbar sind, ist die Gefahr einer Infektion der saudischen Bevölkerung durch den IS so groß.

Besonders die ärmeren Saudis sind von den hiesigen Religionsgelehrten bereits entsprechend indoktriniert. Diese Ärmeren sind es auch, die unter dem niedrigen Ölpreis derzeit besonders zu leiden haben. Denn während bei uns das Benzin billiger geworden ist, sind die Benzinpreise in Saudi-Arabien in Reaktion auf den Ölpreisverfall soeben um glatte fünfzig Prozent erhöht worden – freilich im Verhältnis zu einem recht niedrigen Ausgangsniveau.

Kamapgne für die Freilassung Raif Badawis und Abu al-Khair vor der saudischen Botschaft in Berlin; Foto: DW
"Man kann sich nicht leiden, beklagt den Reformstau, die Korruption, die Segregation der Geschlechter und die Willkür der reaktionären Justiz, die mit Urteilen gegen Aktivisten und Künstler wie Ashraf Fayadh und Raif Badawi den Reformern immer wieder in die Parade fährt. Letztlich sitzt man aber in einem Boot, profitiert von der ungleichen Verteilung der Reichtümer und will es mit dem Fortschritt lieber nicht überstürzen", schreibt Stefan Weidner.

Regimekritische Graffitis

Vorerst schließen der Krieg im Jemen und die Auseinandersetzung mit Iran in Saudi-Arabien die ansonsten zerstrittenen Reihen, Regionen und Bevölkerungsschichten. Nur die wenigsten trauen sich noch, die vorherrschende Rhetorik zu hinterfragen. Man sieht daran, wie eng das Schicksal auch der progressiveren unter den saudischen Eliten an das des Königshauses und der allein von ihm zusammengehaltenen Staatlichkeit Saudi-Arabiens geknüpft ist.

Man kann sich nicht leiden, beklagt den Reformstau, die Korruption, die Segregation der Geschlechter und die Willkür der reaktionären Justiz, die mit Urteilen gegen Aktivisten und Künstler wie Ashraf Fayadh und Raif Badawi den Reformern immer wieder in die Parade fährt. Letztlich sitzt man aber in einem Boot, profitiert von der ungleichen Verteilung der Reichtümer und will es mit dem Fortschritt lieber nicht überstürzen.

Die Hochkultur und die westliche Bildung, denen man bei den Teilnehmern an der Janadriyah-Konferenz immer wieder begegnet, sind das Phänomen einer begüterten, fast mehr noch auf Rang und Namen als auf Geld gegründeten Elite. Dort zu Gast zu sein fühlt sich an, als bewege man sich in den Kreisen des aufgeklärten Adels am Vorabend der Französischen Revolution. Alle spotten über den König und wissen es besser. Aber wenn der Monarch fällt, werden sie mit ihm fallen, und was danach kommt, ist höchstwahrscheinlich zunächst keine Aufklärung, sondern der Terror bärtiger Sansculotten.

Dem Polizeiposten, der meinen Spaziergang unterbrach, war von mehreren Autofahrern berichtet worden, dass hier ein Ausländer mit einer Kamera hantiert habe. Tatsächlich war ich mehrmals angehupt worden. Die Fahrer glaubten, den Staat vor einem fotografierend spazieren gehenden Ausländer schützen zu müssen.

Und wahrscheinlich taten sie gut daran. Bevor ich zeigen musste, was ich fotografiert hatte, gelang es mir gerade noch, die Bilder der regimekritischen Graffitis zu löschen, die mein Interesse geweckt hatten. Sie waren übermalt, aber mit etwas Glück hätte ich sie zu Hause am Bildschirm wieder entziffern können. Was auch immer dort gestanden haben mochte, der wahre Herrscher in Saudi-Arabien des Jahres 2016 ist nicht König Salman, sondern die schiere Angst.

Stefan Weidner

© Qantara.de 2016