Kreativ gegen Erdoğans Zensur

Privatinvestoren sind willkommen, wenn es um Kunst und Kultur geht. Doch türkische Künstler selbst fühlen sich oft unterdrückt. Nichtsdestotrotz hat sich jenseits von Zensur und Kommerz am Bosporus eine lebendige alternative Kunstszene entwickelt. Ceyda Nurtsch stellt sie vor.

Von Ceyda Nurtsch

Die Kunstmesse "Istanbul Contemporary" ist das Highlight im türkischen Kunstkalender. Internationale Sammler sind gern gesehen, die Türkei zeigt sich weltoffen. Die Messe, die jedes Jahr im November stattfindet, ist auch ein wichtiger Seismograph für die aktuellen Entwicklungen in der Kunstszene. Über die Hälfte der 100 Aussteller kommen aus dem Ausland. Auch aus den USA und Russland, doch die Großen des internationalen Kunstmarktes sind noch nicht dabei.

Es sind wohlhabende Familienclans, wie etwa Eczacıbaşı oder Tahincioğlu, die in der Türkei die Kunstszene beeinflussen. In ihrem Besitz sind etliche Sammlungen und Museen, darunter das Rahmi M. Koç Museum für Transport, Industrie und Kommunikation. In den vergangenen Jahren haben diese Familien Stiftungen gegründet und viel Geld in die Restaurierung alter Industriegelände gesteckt, die in Kulturzentren umgewandelt werden. Daneben haben private Banken den Kultursektor als Investitionsmarkt für sich entdeckt. Sie organisieren Musikfestivals oder bringen Bücher heraus.

Keine Tradition der Kulturpolitik

Doch hinter den Kulissen dieses "Kulturbooms" sieht es anders aus. "Seit ein paar Jahren stagniert alles", beobachtet die Stadtsoziologin Ayça İnce. Das liege nicht zuletzt daran, dass es in der Türkei keine Tradition der Kulturpolitik gebe. Die seit über zwölf Jahren regierende neoliberale Partei AKP habe daran nicht viel geändert. Dabei hatte sich die Partei vor ihrem ersten Wahlsieg 2002 Demokratisierung und Kulturpluralismus auf die Fahnen geschrieben. Viele Intellektuelle, Liberale und Künstler hatten die Partei deshalb unterstützt. Sie erhofften sich auch eine Liberalisierung im kreativen Bereich.

Im März 2014 ließ Präsident Erdogan Twitter sperren. Foto: Reuters
Im März 2014 ließ Präsident Erdogan Twitter sperren. Man hatte ihm und seiner Familie Korruption vorgeworfen. Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht die Türkei auf Platz 154 von 180 Staaten. Kritische Stimmen fallen immer wieder dem Verbot sozialer Medien und der dehnbaren Auslegung von Paragraphen des Strafgesetzes zum Opfer.

Doch das Kulturverständnis der Regierung ging in eine andere Richtung. Spätestens seit dem brutalen Vorgehen der Regierung bei den Protesten rund um den Gezi-Park im Sommer 2013 sind viele desillusioniert, die einst die AKP als Hoffnungsträger gesehen hatten. Über Monate hatten die Menschen gegen einen Umbau des Gezi-Parks demonstriert. Die Regierung will dort ein Einkaufszentrum errichten.

Moderne Kunst im Abseits

Die AKP gibt sich kommunalpolitisch sozial. Seit 1994 stellt die Partei von Präsident Erdoğan auch den Bürgermeister von Istanbul. Der hat im Bereich Service und Infrastruktur für einige Fortschritte gesorgt. Neue Museen sollen das islamisch-türkische Erbe betonen, etwa das Panorama-Museum zur Eroberung Istanbuls durch die Osmanen. Öffentliche Gelder im Bereich der modernen Kunst blieben dagegen aus. Ähnlich sieht es beim Musiktheater aus: Istanbul wurde zwar 2010 Europäische Kulturhauptstadt, hatte aber kein bespieltes Opernhaus.

Von den Kulturzentren, die in den vergangenen Jahren im ganzen Land neu errichtet wurden, ist İnce ebenfalls enttäuscht. "Heute sehen wir, dass es der AKP nie darum ging, Kulturzentren zu errichten, sondern vielmehr die Bauindustrie anzukurbeln." Istanbul soll, so Erdoğans Vision, im Jahr 2023, zum 100. Jahrestag der Republik, ein führendes Finanzzentrum sein.

Zensur führt zur Selbstzensur

Auch die Zensur habe unter der AKP eine neue Qualität bekommen, sagt Ayça İnce. "Seit 2010 ist besonders in der Kulturpolitik eine Vereinheitlichung nach den eigenen Vorstellungen der Regierung zu beobachten." Das Problem sei, dass die Regierung ihre konservativen Werte nicht genau definiert habe und willkürlich entscheide, wann zum Beispiel eine Beleidigungen des Propheten oder des Präsidenten vorliegt. Dadurch habe die Selbstzensur zugenommen.

Beim Filmfestival in Antalya 2014 hat die Festivalleitung zum Beispiel eine Dokumentation über die Gezi-Proteste aus dem Wettbewerb genommen mit der Begründung, sie beleidige Erdoğan. Daraufhin zogen rund ein Dutzend Dokumentarfilmer ihre Beiträge zurück und der Wettbewerb konnte nicht stattfinden.

Protest gegen die Verhaftung von Journalisten in der Türkei. Foto: picture-alliance/dpa
Über einstige Tabuthemen wie Armenier und Kurden darf in der Türkei mittlerweile geredet und diskutiert werden. Trotzdem sitzen noch immer 22 Journalisten in türkischen Gefängnissen. Die meisten von ihnen sind Kurden.

Auch die Medienlandschaft ist von Zensur und Selbstzensur geprägt. Auf der Rangliste der Pressefreiheit von "Reporter ohne Grenzen" steht die Türkei auf Platz 149 von 180 Staaten. Kritische Stimmen fallen immer wieder dem Verbot sozialer Medien und der dehnbaren Auslegung von Paragraphen des Strafgesetzes zum Opfer.

Besonders deutlich wurde dies bei der Berichterstattung um die Gezi-Proteste. Viele türkische Mainstream-Medien ignorierten die Proteste oder stellten sie in diffamierender Weise dar. Das führte zu einer breiten Diskussion über die Meinungsfreiheit in der Türkei.

Über einstige Tabuthemen wie Armenier und Kurden darf mittlerweile geredet und diskutiert werden. Auch die offizielle Geschichtsschreibung wird in diesem Zusammenhang häufiger in Frage gestellt. Trotzdem sitzen noch immer 22 Journalisten in türkischen Gefängnissen. Die meisten von ihnen sind Kurden.

Mit Ironie gegen Staatsgewalt

Bahar Çuhadar ist Theaterkritikerin der Tageszeitung "Radikal". Sie kann etliche Beispiele nennen, in denen das Kulturministerium auch bei Filminhalten und Schauspielen am Staatstheater eingegriffen hat. "Da wird Druck ausgeübt, indem man Gagen streicht oder Vorstellungen absagt. Das geht bis hin zu gerichtlichen Verfahren und zur Mobilisierung von bestimmten Presseorganen, die konkrete Personen diffamieren", so Çuhadar.

Seit einigen Jahren bestimmen jedoch eher kleine und unabhängige Bühnen die Theaterszene Istanbuls. Das stimmt sie optimistisch: "Zensur macht die Menschen nur noch kreativer, sowohl inhaltlich als auch sprachlich. Das Wichtigste dabei ist die Ironie." In ihren Stücken setzen sich diese unabhängigen Theater auch mit der Staatsgewalt auseinander. "Und mittlerweile", berichtet Çuhadar stolz, "spielen renommierte Schauspieler in diesen Theatern mit."

So bleibt zu hoffen, dass der nach Freiheit strebende bunte und humorvolle Geist, der während der Gezi-Proteste auch auf den Straßen Istanbuls zum Vorschein kam, in Zukunft weiter lebt und weder Zensur noch unternehmerischen Kalkulationen zum Opfer fällt.

Ceyda Nurtsch

© Deutsche Welle 2015

Die Autorin Ceyda Nurtsch promovierte in Türkischer Literatur und arbeitet als freie Journalistin in Berlin und Istanbul.